Jehona Kicaj
ë
Shortlist Deutscher Buchpreis 2025
„Der Mund ist ein sensibler Wahrnehmungsraum. Wir bemerken kleinste Veränderungen im eigenen Biss sofort, und sie können sich so weitreichend auswirken, dass man sich nicht mehr wohl fühlt und die eigene Mundhöhle einem fremd wird.“
Stein im Mund
Die Ich-Erzählerin, eine junge Frau, die im Kosovo geboren wurde und mit ihren Eltern noch vor Kriegsausbruch 1998 nach Deutschland flüchtete, beginnt ihre Geschichte mit einem abgebrochenen Stück Zahn, das sie morgens in ihrem Mund findet. Die Schmerzen in ihren Kiefergelenken entstehen nachts, im Schlaf, denn sie knirscht mit den Zähnen, und auf die Suche nach der Ursache ist sie mit dem Schweigen, dem Unausgesprochenen ihres Lebens konfrontiert. Hellsichtig die Diagnose des Arztes Doktor Ludwig:
„Jeder gute Aufbiss ist mit einer Art Heimatgefühl verbunden, und der Verlust fällt erst auf, wenn sich durch irgendein Ereignis etwas verändert hat.“
Durch die Flucht veränderte sich alles für die albanische Familie, auch für das Kind. Vor allem für den Zwang, sich in einer neuen Sprache neu zu erfinden, werden die Zähne zum stimmigen Leitmotiv.
„Ich bilde mir ein, dass meine Kiefergelenke an Tagen, an denen ich nur Albanisch gesprochen habe, weniger laut einrasten. Als hätte ich an diesen Tagen weniger Schmerzen. Wenn ich Deutsch spreche, habe ich das Gefühl, mein Kiefer müsse sich verrenken, um die Wörter auszusprechen, sie richtig zu betonen. Es kommt mir manchmal so vor, als hätte ich beim Sprechen einen großen Stein im Mund; die Ecken bei jedem Wort spürbar auf dem Zungenrücken, am Gaumen, an den Wangen. Als würde mir diese Sprache eine Anstrengung abverlangen, die sich jeden Tag mehr und mehr in den Knochen festsetzt.“
Spuren der Verwüstung
Jehona Kicaj folgt den Erinnerungen an die ersten Besuche im Kosovo nach Kriegsende, den Spuren der Zerstörung, und aus jedem Bild, jeder Erzählung entstehen weitere Erinnerungen an die Schrecken eines inzwischen längst vergessenen Krieges mitten in Europa, lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Der Weg zum Haus der Mutter der Ich-Erzählerin wurde lange nach Kriegsende als ‚Tal des Todes‘ bezeichnet, und die Spuren der Verwüstung sind noch deutlich sichtbar. Der Mann ihrer Schwester, damals sechzehn Jahre alt, erinnert sich daran, dass im Frühjahr 1990 über siebentausend albanische Schülerinnen und Schüler im ganzen Kosovo mit einer unbekannten Substanz vergiftet wurden. Diesen Vergiftungen ging in vielen Schulen die Trennung von albanischen und serbischen Schülerinnen und Schülern voraus, aber „aus der mysteriösen Krankheit ist eine vergessene geworden“, auch im europäischen Gedächtnis an diesen Krieg. Der Großvater der jungen Frau blieb, wie viele Tausende Albaner spurlos verschwunden, und die junge Frau verknüpft den eigenen Schmerz ihrer Zähne mit der Aufarbeitung der Massaker mithilfe der aufgefundenen Zähne in den Massengräbern durch internationale Teams von Forensikern. Kicaj entwickelt den Weg der Ich-Erzählerin vom Kindergarten bis zur Rückkehr zwanzig Jahre später mit großer Behutsamkeit.
„So lange schon ist mein rollendes R aus dem Deutschen verschwunden. Ich habe es verbannt, damit es mich nicht mehr verraten kann.“
Ausgrenzung
Die Wiedergewinnung von Erinnerung und Sprache ist schwer und kaum ohne Schmerzen denkbar, und sie hat Grenzen, derer sich die Autorin außerordentlich genau bewusst ist. Nicht zuletzt durch die Erfahrung, in der neuen Heimat ausgegrenzt zu werden, trotz Studium und perfektem Deutsch, etwa, wenn bei der Wohnungssuche Vermieter auf Mails mit fremdartigen Namen nicht einmal antworten.
Das albanische ë mit den zwei Punkten, das dem ersten Roman der Literaturwissenschaftlerin, Verlagslektorin und Schriftstellerin als Titel dient, setzt als Buchstabe, der nicht ausgesprochen wird, ebenfalls ein Zeichen: Auch das Nicht-Ausgesprochene verändert etwas, hier die Betonung. Das, was verschwiegen, nicht ausgesprochen wird, hat auch bei denen, die Verfolgung und Zerstörung nicht direkt am eigenen Leibe erfuhren, eine große Wirkung, und ihr geht Jehona Kicaj nach. Sie kämpft auf der Spur des Schmerzes um die sprachlose Sprache der Traumata und Verletzungen und entschlüsselt in luzider eigener Sprache, wie sie sich in die Körper und die Erinnerungen und Träume einschreiben konnten.
„Wenn man mich fragt, woher ich ursprünglich komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit.“
(Lore Kleinert)
Jehona Kicaj, *1991 in Kosovo, aufgewachsen in Göttingen, Studium in Hannover, Autorin von wissenschaftlichen Publikationen, literarischen Texten und diesem, ihrem ersten Roman.
Jehona Kicaj „ë“
Roman, Wallstein Verlag 2025, 177 Seiten, 22 Euro