Marion Brasch
Lieber woanders
"Der Plan ist ganz einfach: Da sind zwei Leute an verschiedenen Orten. In den nächsten vierundzwanzig Stunden werden sie sich aufeinander zubewegen, ob sie wollen oder nicht ..."
Zwei Leute, die Toni und Alex heißen. Beide tragen das Gefühl von Schuld mit sich – Toni, weil sie ihren kleinen Bruder bei einem Autounfall verloren hat, und Alex, weil er seine Frau betrügt. Seit sieben Jahren. Aber das ist nicht die einzige Schuld, die er mit sich herumschleppt.
Blau mit weißen Punkten
Toni lebt seit sechs Jahren ein ungewöhnliches, aber autonomes Leben in einem Wohnwagen. Niemand redet ihr rein, niemand gängelt sie. Sie ist ein bisschen durchgeknallt, lebt in den Tag hinein, jobbt in der Kneipe, zeichnet viel und originell. Sie ist talentiert. Mit den Männern hatte sie bisher immer Pech, jetzt will sie nach Neuseeland, einen alten Freund besuchen. Den Kontakt zu ihrer Mutter hat sie abgebrochen, ihren Vater will sie eigentlich auch nicht sehen, der hat die beiden verlassen. Toni wird ihr Trauma nicht los, schuld zu sein am Tod des Bruders, den sie vor sechs Jahren von der Kita im Auto abholte:
"Die Zeit heilt nicht alle Wunden … Manchmal tut es weniger weh, aber weg geht es nie. Und nachts ist es am schlimmsten. Und wenn es am schlimmsten ist, braucht man jemanden, der da ist ..."
Ab und zu treffen sich Vater und Tochter in der Stadt. Auch an jenem Tag, an dem Toni, die sonst immer T-Shirt oder Pullover, Latzhose und Boots trägt, ihr einziges hübsches Kleid aus einer alten Kiste fischt: dunkelblau mit weißen Punkten, Erinnerung an glücklichere Zeiten. In der Stadt wird sie eine Verlegerin treffen, die aus ihren Zeichnungen ein Buch machen will.
Pech gehabt
Alex hat Frau und Tochter und seit sieben Jahren eine heimliche Geliebte. Aber in seinem Leben ist auch etwas passiert, über das er noch niemals gesprochen hat. Er arbeitet als Roadie bei einer Band, früher war er LKW-Fahrer. Er ist auf dem Weg nach Hause, hat die Nacht bei der anderen Frau verbracht. Er will seine Tochter im Krankenhaus besuchen – Blinddarm-Operation.
"Der Zug setzt sich in Bewegung. Eine junge Frau in gepunktetem Kleid und Lederjacke kommt auf den Bahnsteig gestürmt und stampft wütend mit einem ihrer schweren Stiefel auf. So ein Pech, denkt Alex."
Aber die vierundzwanzig Stunden sind ja noch lange nicht vorbei – zwischen dieser und ihrer letzten Begegnung sind noch einige verrückte Überraschungen zu erleben und diverse namenlose Figuren kennenzulernen, die irgendwie aus der Zeit gefallen sind.
Echt erfunden
Marion Brasch erzählt abwechselnd von Toni und von Alex, in knappen Kapiteln, eindringlich, leicht und unaufgeregt, in klarer Sprache und mit viel Gespür für die Gefühle ihrer Figuren und ein unerbittliches Schicksal, dem sie nicht entrinnen werden. Je schneller sich die beiden aufeinander zu bewegen, desto spannender wird es, desto detailreicher werden ihre Gefühle, Gedanken, Hoffnungen, desto mehr Zufälle sorgen für Verwirrung und Klarheit zugleich. Brasch lockt die Leser mit Andeutungen, Hinweisen, man will endlich wissen, was die beiden verbindet, ahnt bereits etwas und ist dann doch komplett überrascht, als die Vierundzwanzig-Stunden-Frist in einem tragischen Zufalll endet. Zufall?
"Wie sagte schon ein weiser Mann: 'Alles in der Welt endet durch Zufall und Ermüdung.' Das ist in den echten Geschichten genauso wie in den erfundenen. Und die hier war eine echte erfundene."
(Christiane Schwalbe)
Marion Brasch, *1961 in Ost-Berlin, gelernte Schriftsetzerin, arbeitete als Journalistin bei verschiedenen Verlagen, lebt in Berlin
Marion Brasch "Lieber woanders"
Roman, S. Fischer 2019, 160 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 13,27 Euro