Simone Meier
Kuss
Yann und Gerda sind gerade in ein renovierungsbedürftiges Reihenhaus an den Stadtrand von Zürich gezogen, und Gerda stürzt sich mit großer Energie und Leidenschaft auf die Aufgabe, es zu einem gemütlichen Zuhause zu machen. Sie hat gerade ihren Job verloren, den Freunden gegenüber spricht man von unbezahltem Urlaub.
Hausfrau und Mutter
Mit Anfang 30 ohne Arbeit und 'nur' Hausfrau – das passt nicht gut ins Bild ihrer Generation, und auch Yann macht sich Gedanken, fragt sich,
"ob er daran schuld war. Ob er seine Unterschrift zu voreilig unter den Mietvertrag für das Haus gesetzt hatte. Ob er Gerda ins Hausfrauendasein hineingetrieben hatte. … Hoffentlich wird sie bald schwanger, würden sich seine Institutskollegen denken, dann ... könnte sie sich wenigstens als Mutter und Hausfrau bezeichnen. … Yann war achtunddreißig. Irgendwann wollte er Kinder."
Kleine Risse
Gerda denkt aber gar nicht an Kinder, sie verschönert hingebungsvoll das neue Heim, nicht ohne Zweifel, ob das alles gut so ist, wie es ist.
"Er gab ihr Haus und Geld, sie gab ihm Heim und sexuelle Gratifikation .. Gerda war gar nicht unzufrieden mit ihrem Dasein, das sich seit Monaten auf das Haus, den großen Baumarkt an der Peripherie und seine Gartenabteilung konzentrierte. Aber sie fürchtete, dass Yanns Geduld mit ihr langsam löchrig werden könnte. Oder, was schlimmer wäre, dass er das Ungleichgewicht zwischen ihnen genießen könnte."
Yann ist fasziniert von der Nachbarin, der Journalistin Valerie, 52, "hart im Ton und hart im Nehmen", die sich die Männer ins Bett holt, wann und wo sie will. Das Haus hat sie von der Großmutter geerbt und will es verkaufen – zu viele Kindheitserinnerungen. Sie ist gut befreundet mit F., einem alternden Schauspieler, nicht minder abgeklärt als sie. Zwar noch nicht zu alt für eine Liebe, glaubt sie nicht mehr an romantische Gefühle und ist zutiefst verunsichert, als ein deutlich jüngerer Mann sie nach einem alkoholisierten One-Night-Stand wiedersehen will.
Liebe in Variationen
In Simone Meiers Roman geht es um die Liebe in Variationen. Dieses Gefühl verändert sich ständig, verbirgt sich hinter Rollenklischees und Fassaden, provoziert Krisen, in denen verdrängte Sehnsüchte aufbrechen und aus dem bequemen Trott einer Beziehung ein hochexplosives Nebeneinander machen:
"Sie traute sich selbst nicht mehr. Wäre ich ein Mann, dachte sie, würde ich mich heillos in diese unberechenbare Person verlieben, ihr verfallen, sie anbeten, mich für sie aufgeben."
Das "Biest in ihr" wird bei Alex wach, "dem Mann der aussah wie ein dunkles Versprechen". Er ist ein Freund und Arbeitskollege von Yann, von Haus aus vermögend, und gerade deshalb möglichst schlicht und in einer Wohngemeinschaft lebend. "Alex war ein Spleen", eine alles überlagernde Obsession, und in der Fantasie erlebt sie eine leidenschaftliche Affäre mit ihm. Yann gerät seinerseits in einen Strudel, als er auf einer Dienstreise ein junges Mädchen trifft, das ihn so selbstverständlich und natürlich anspricht, dass er gar nicht anders kann, als ihr zu folgen:
"Ahnungen von Freiheit machten sich breit, die Mauern von Gewissen und Gewissheit begannen zu bröckeln, und über allem lag eine prickelnde Neugier, der er gerne nachgehen wollte."
Spannendes Wechselspiel
Simone Meier zerlegt die Liebe in ihre Bestandteile, spürt den geheimsten Bedürfnissen ihrer Figuren nach und gräbt Stück für Stück Wünsche und Abneigungen aus, die im Gender-Einerlei untergegangen sind oder verschwiegen werden. Ein subtiles Wechselspiel, lakonisch und cool erzählt, spannend und mit einem absolut unerwarteten Schluss.
(Christiane Schwalbe)
Simone Meier, *1970 in Lausanne/Schweiz, Schriftstellerin und Journalistin, lebt in Zürich
Simone Meier "Kuss"
Kein & Aber 2019, 256 Seite, 22 Euro
eBook 17,99 Euro