Nicola Karlsson
Licht über dem Wedding
Eine Hochhaussiedlung im Wedding, ein unwirtlicher Ort, in dem Menschen in prekären Verhältnissen leben und sich lieber aus dem Weg gehen. Hannah lebt hier, eine Influencerin mit Modeblog, Wolf, abgerutscht und ohne Job, Alkoholiker, und Agnes, seine Tochter, eine hasserfüllte Fünfzehnjährige.
Zwischen Angst und Gewalt
"Agnes sprang auf. Wollte sie bei den Haaren packen, den Hinterkopf in die Hand nehmen und sie gegen die Betonwand knallen, weil sie diese Drecksschlampe hasste. Weil sie nicht wusste, wohin mit all dem Zorn."
Diese drei Protagonisten tragen die Geschichte von Gewalt, Ausgrenzung und Prekariat, die sich nur langsam entwickelt, anfänglich in vielen Situationsbeschreibungen steckenbleibt, ehe die Autorin an den Kern von Angst und Hass und Aggressionen rührt, die diesen Roman so bedrückend machen. Denn sie setzen einen Strudel von scheinbar unausweichlichen Ereignissen in Gang, die in individueller Zerstörung enden.
Bloß keine Nähe
Hannah ist ein Modepüppchen, die Fotos von sich postet - in Glitzer-Outfit und High Heels und an möglichst originellen Plätzen: auf Schienen beispielsweise, wenn die Bahn kommt. Eine Influencerin, die ihren Körper für gutes Geld in den sozialen Medien verkauft und dennoch immer pleite ist. Nähe? Bloß nicht. Liebe? Gibt's nicht. Und die Freundschaft zur ihrer Mitbewohnerin Fee scheitert an fehlenden Mietzahlungen.
"Hätte sie Geschwister, wäre sie das schwarze Schaf, über das alle lästern konnten. So aber war sie einfach nur eine riesige Enttäuschung."
Agnes geht noch zur Schule, wird wegen ihrer unberechenbaren Aggressivität auffällig und suspendiert. Was der ewig besoffene Vater Wolf nur zufällig entdeckt und sich schwört, endlich mit dem Alkohol aufzuhören. Für "mein Mädchen".
"Er hatte versagt. Hatte mehr Schaden angerichtet, als es eine Pflegefamilie hätte tun können … Er konnte sich nichts vormachen. Es war nicht die Erziehung, das Trinken war das Problem."
Wodka gegen die Trauer
Das bleibt alles noch sehr an der Oberfläche, aber je mehr Karlsson ihre Protagonisten in die Enge ihrer Vergangenheit und Kindheit treibt, desto klarer wird der Blick darauf, wie sie in eine Lage geraten sind, in der es nur noch ums nackte Weiterleben geht: Wolfs Verlust seiner Frau und eine daraus folgend obsessive Liebe zu Agnes, die ohne Mutter aufwächst, aber mit einem Vater, der die Trauer im Wodka ertränkt. Hannahs krebskranke Mutter, die den nahen Tod ignoriert und barsch jede Nähe zur Tochter ablehnt, die wiederum in alte Ängste und Depressionen zurückfällt, als die Freundin die gemeinsame Wohnung verlässt:
"Die beiden durften ihr Gesicht nicht sehen … Die Dunkelheit verbarg ihre Haltung. Gebeugt. Gebrochen. Keiner sah sie. Meine Tränen kriegt ihr nicht. Sie waren nicht mehr ihre Freunde. Das war vorbei."
Einsamkeit und Liebesentzug – darunter leiden alle in diesem Roman, auch die Jungs, die Autos "ausleihen" und Drogen konsumieren; Luca, das zutrauliche kleine Mädchen von nebenan, immer allein, dessen Kaninchen vom Hochbett fällt und von Hannah zum Arzt gebracht wird; auch die Frau, die es geschafft hat, bei den Anonymen Alkoholikern über die Gründe ihrer zerstörerischen Sucht zu sprechen und endlich nüchtern bleibt.
Verstörende Ausweglosigkeit
Das alles ist weder Milieustudie noch Abbild eines typischen sozialen Brennpunkts in der Großstadt. Der Roman wirft ein grelles Licht auf das, was sich in den nach Pisse stinkenden Straßenecken, diffus beleuchteten Grünanlagen und zugigen Hochhausfluren versteckt: Gewalt und Hoffnungslosigkeit, aus der keiner rauskommt. Für die buchstäblich bodenlose Verlassenheit dieser Menschen findet Nicola Karlsson nur eine denkbar knappe, harte und ungeschönte Sprache, die dennoch einen Sog ausübt. Ein in seiner Konsequenz verstörender Roman, der auf Klischees verzichtet und individuelle Schicksale beschreibt, deren seelisches Elend unter die Haut geht.
(Christiane Schwalbe)
Nicola Karlsson, *1974 in Berlin, Modedesignerin und Autorin, 2013 erschien ihr Debütroman "Tessa", sie lebt in Berlin.
Nicola Karlsson "Licht über dem Wedding"
Piper Verlag 2019, 320 Seiten, 20 Euro
eBook 17,99 Euro