Hanns-Josef Ortheil
Mittelmeerreise
Sommer 1967: Hanns Josef Ortheil ist 15, bald 16, und geht mit seinem Vater wieder einmal auf Reisen. Diesmal ist es ein echtes Abenteuer, denn die beiden fahren an Bord eines Frachtschiffs durchs Mittelmeer bis nach Griechenland und Istanbul.
Mit großer Neugier
Stift und Papier sind auch diesmal die unentbehrlichen Begleiter des Jungen, der Vater zeichnet wie ein Besessener. Sie reisen mit leichtem Gepäck und großer Neugier, die sich – wie immer bei Ortheil – in vielen Notizen, Skizzen, Geschichten und Beobachtungen niederschlagen wird. Und in großer Ernsthaftigkeit, wenn es um die Bewertung all dessen geht, was die beiden auf dieser Reise sehen und erleben, wem sie begegnen, was sie essen und trinken, welche Sehenswürdigkeiten sie besuchen. Aber die Reise beginnt mit einem sehr nachvollziehbaren Gefühl:
"Es war ein heißer Sommertag, der Himmel war glattblau, keine Wolken waren zu sehen – und doch wurde mir plötzlich kalt. Ich hatte eindeutig Angst vor diesem Riesen direkt vor meinen Augen … würden Papa und ich dieses Monstrum betreten, würde es uns allmählich verschlingen ... Es bestand aus Eisen und Stahl, damit kannten wir uns nicht aus. Wir waren Witzfiguren, jawohl, nichts anderes waren wir."
Homer als Begleiter
Auch das Wetter ist in den ersten Reisetagen nicht gnädig, das Schiff gerät in einen schweren Sturm, der "den Jungen", wie der Vater stets etwas distanziert zu sagen pflegt, aufs Bett und in eine üble Seekrankheit wirft.
"Mein Magen will vollkommene Leere, nichts sonst. Ich hoffe, dass sämtliche Ladung an Deck über Bord gehen wird, dann laufen wir den rettenden Hafen von Lissabon an. Nie mehr werde ich ein solches Schiff betreten, nie mehr!"
Sobald Sturm und Übelkeit überstanden sind, kann sich der junge und schon so (alt)kluge Ich-Erzähler Johannes dem widmen, was er am liebsten tut: beobachten, schreiben, verstehen, hinterfragen. In dieser Reihenfolge "erarbeitet" er sich Schiff und Besatzung und die Erlebnisse während der Landgänge. Die Militärdiktatur Griechenlands kommt hier nur am Rande vor. Einschlägige Lektüren, vor allem Homers "Odyssee", begleiten Johannes, der – so scheint es - den lieben langen Tag mit klugen Gedanken beschäftigt ist: schauen, staunen, nachfragen, nachlesen, interpretieren, reflektieren – in Reisetagebuch-Notizen, Postbriefkarten an die Mutter, Beschreibungen der Besatzungsmitglieder und des Vaters, den er völlig neu erlebt:
"Liebe Mama, das Mittelmeer ist ein warmes, großes Becken. Wir schippern dahin, und Papa malt ein Aquarell nach dem anderen. Wusstest Du, dass er eigentlich ein Zeichen- und Aquarellkünstler ist? … Papa trägt einen Strohhut und sieht aus wie der Maler Monet, ich meine den mit den Heuschobern."
Küsse in der Bar
Viel ist zu sehen, zu verstehen und niederzuschreiben. Unerwartete menschliche Begegnungen mit Kapitän und Ingenieuren, die aus ihm unbekannten Welten kommen. Auch der Funker und vor allem der junge Stewart Denis, nur wenig älter als Johannes, leben ein Leben, das gegensätzlicher nicht sein könnte. Denis erweist sich als Herausforderer und Nervensäge, lässt nichts aus, um den gebildeten, sich nach seinem Klavierspiel sehnenden fünfzehnjährigen "Sohnemann" davon zu überzeugen, dass es auf der Welt nicht nur Bücher, Stifte und Papier gibt, sondern auch Diskos, die Beatles und Mädchen. Schließlich lässt er sich widerwillig – man möchte fast sagen: endlich! - in eine Bar schleppen, in der ihn ein Mädchen zu heftigen Küssen verleitet.
"Bunt verkleidet stolperte ich in die griechische Unterwelt, wo es bestimmte Regeln und Gesetze gab, von denen ich noch nie gehört hatte. … Und es schien zu den Regeln zu gehören, dass man nicht nur eine Person küsste, sondern kurz darauf zu einer anderen überging – um erneut jemanden zu küssen."
Ganz ohne Vater
Immerhin steckt man mit fünfzehn in der Pubertät und hat alles andere als kluge Gedanken im Sinn. Johannes ist jedenfalls komplett durcheinander, und nun wird es in diesem über lange Strecken allzu detailreichen und deshalb oft etwas schwerfällig anmutenden "Roman eines Heranwachsenden" spannend und überzeugend. "Der Junge" ist wegen Denis ohnehin hin- und hergerissen zwischen neuen Gefühlen und alten Gewohnheiten:
"Jahrelang habe ich Tag für Tag Klavier geübt und jahrelang habe ich Tag für Tag kleine Texte geschrieben. Das war viel Mühe und Arbeit. Harte Arbeit! Deswegen beherrsche ich inzwischen zwei Dinge einigermaßen: Klavierspielen und kleine Texte schreiben. Sonst kann ich nichts, gar nichts, verstehst Du! Ich kann überhaupt nichts von dem, was andere Jungen in meinem Alter können."
Aber er wird es schnell lernen, weil er sich mutig hineinbegibt in die neue Situation, ganz ohne den Vater an seiner Seite – und beginnt, sich von ihm abzunabeln.
Schreiben als Passion
Dieser Roman ist besser zu verstehen, wenn man weiß, dass Ortheil bis zu seinem siebten Lebensjahr nicht gesprochen, und die Entdeckung der Sprache im Schreiben ihm ins wirkliche Leben geholfen hat ("Die Erfindung des Lebens, 2009, und "Der Stift und das Papier", 2015), angeleitet von seinem Vater, der ihn aus der symbiotischen Zweisamkeit mit seiner vor Trauer über den Tod von vier Söhnen verstummten Mutter herausgerissen hat. Seitdem notiert Ortheil akribisch und täglich, was um ihn herum geschieht, was und wen er beobachtet. In vermutlich Tausenden von schwarzen Kladden steckt der Stoff, aus dem seine Romane sind, nachdem eine Sehnenscheidenentzündung ihn daran gehindert hat, Pianist zu werden.
(Christiane Schwalbe)
Hanns-Josef Ortheil *1951 in Köln, deutscher Schriftsteller, Drehbuchautor und Professor für Literatur
Hanns-Josef Ortheil "Die Mittelmeerreise"
Roman eines Heranwachsenden
Luchterhand-Literaturverlag 2018, 640 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro
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