Hanns-Josef Ortheil
Blauer Weg
25 Jahre Mauerfall 1989 – das Jubiläum ist vor allem in Berlin ausgiebig gefeiert worden Und das nächste Jubiläum steht bereits vor der Tür: 25 Jahre Deutsche Einheit im Oktober 2015.
Panorma der Wendezeit
Gute Gelegenheit also, Hans-Josef Ortheils beeindruckende Notizen, Skizzen, Gedanken und Porträts zu lesen, die er als aufmerksamer Zeitzeuge in den Wendejahren niedergeschrieben hat, 1996 erstmals veröffentlicht und 2014 wieder aufgelegt. Im einleitenden Essay zur Neuauflage nennt er selbst "Blauer Weg" ein literarisches Tagebuch, in dem er "viele Spuren eines größeren Erzählzusammenhangs" entdeckt, der sein Werk "untergründig durchzieht und miteinander verbindet … Auf den ersten Blick ist 'Blauer Weg' eine Art Panorama aus kurzen Geschichten, Stimmungsbildern und Reflexionen …"
Mitten im Geschehen
Es sind Texte unterschiedlicher Länge, die er mal als sachlicher, mal als teilnehmender oder kritischer Beobachter schreibt, einfühlsam und klug, mit spitzer Feder und genauem Blick. Er begibt sich aus äußerer Betrachtung hinein ins Innere der geschichtlichen Entwicklungen, wenn er befreundete Autoren porträtiert, westliche Ost-Nostalgie belächelt und sich schließlich im Osten sogar ein Zimmer mietet,
"um dem geschichtlichen Umbruch so nahe wie möglich zu sein … Mein Ost-Quartier liegt in Stadt-Mitte, mein westliches ganz außerhalb, beinahe schon auf dem Land. Manchmal muß ich überlegen, wo ich die Nacht über schlafen werde, im Osten oder im Westen, und dann überlege ich wieder, wo ich wohl gerade bin, im Osten oder im Westen …"
Rückkehr ins Refugium
Zufällig gerät er ins Geschehen, während eines Arbeitsaufenthaltes in Prag 1989, er wohnt nahe der Deutschen Botschaft. Aus dem Zufall wird Absicht, immer wieder reist er in den Osten, reflektiert die Wiedervereinigung aus unterschiedlichen Perspektiven, versucht die Veränderung der Lebensgewohnheiten der Menschen nachzuvollziehen, stellt Bezüge und Zusammenhänge her, die sich heute so aktuell wie damals lesen. Stets kehrt er in sein Refugium zurück, wo sich die Fülle der Eindrücke zum literarischen Panorma formen: Ein Gartenhaus in der Nähe von Stuttgart, einsam und abgelegen, inmitten ursprünglicher Natur – das ist sein Paradies, der Ort der Ruhe:
"Rückkehr und Heimkehr, in denen das gerade noch 'außen' Erlebte verarbeitet und durchdacht wird." Aus der Weite und Öffentlichkeit kehrt er zurück ins Verborgene, Private.
25 Jahre Zeitgeschichte
Am Ende haben wir uns durch 25 Jahre Zeit- und Kulturgeschichte in Europa gelesen, Ortheil beim Sekt mit Bundeskanzler Kohl beobachten und eine glänzende Analyse seiner Politik lesen dürfen, wir haben uns erinnert an seine Berlinreise, geschrieben als Zwölfjähriger, wir haben den erwachsenen Ortheil zum Brandenburger Tor begleitet und in die deutsche Provinz nach der Wende und immer wieder nach Berlin, wo seine Eltern in jungen Jahren die schlimmste Zeit ihres Lebens verbrachten.
Ein glänzend geschriebenes Buch über eine bewegende und bewegte Zeit deutscher Nachkriegsgeschichte, das in diesen Monaten der Jubiläumsfeiern verblüffend zeitlose Analysen liefert.
(Christiane Schwalbe)
Hanns-Josef Ortheil "Blauer Weg"
Luchterhand 2014, 592 Seiten, 22.90 Euro, eBook 18,99 Euro
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