Hanns-Josef Ortheil
Der Stift und das Papier
Schreiben ist seine Passion, denn schreibend hat er sich die Welt erobert: Das Kind, das jahrelang nicht gesprochen hat, wurde von Vater und Mutter in sehr besonderer Weise unterrichtet.
Schreibschule in der Jagdhütte
Ausgerüstet mit Stift und Papier erkundet der Junge, zunächst nur unter Anleitung des Vaters, seine direkte Umgebung, schreibt auf, was er sieht und beobachtet. Diese SchreibschuIe beginnt in der Jagdhütte des elterlichen Grundstücks im Westerwald. Aus dem Kind, das nicht spricht, wird das Kind, das schreibt, später sogar in der Zeitung.
Es ist ein überaus langsamer und zunächst mühsamer Prozess, den der Junge durchmacht, denn die
"Sprache und das Gesprochene bestanden für mich aus unzähligen Rätseln, auf die ich meist nur mit bloßen Vermutungen reagieren konnte. Die Klänge, Laute und Worte waren nämlich etwas sehr Schwieriges, kaum zu Durchschauendes, und anscheinend ging jeder einzelne Mensch auch noch unterschiedlich damit um. … Indem ich nicht sprach und mich nur selten unter Gleichaltrigen aufhielt, erwarb ich keine eigene Sprache."
Wörter, die nichts sagen
Ortheil fürchtet sich davor, als Versager verspottet zu werden, der in der Schule nicht mitkommt, er leidet unter "nichtssagenden" Wörtern, die er nicht einordnen kann, begreift deshalb auch seine Umwelt nicht wirklich. Genau da setzt das Lernprogramm des Vaters an: Er soll schauen, genau hinsehen, erklären und begreifen. Anreiz gibt das Schreibmaterial: viele unterschiedliche Stifte und Papiere, die – beschriftet und bemalt - zu Stapeln, später zu einer Sammlung, dann zum Archiv mit zahlreichen Rubriken anwachsen. So entsteht eine systematische Chronik – und Material für ein ganzes Leben. Denn Ortheil schreibt bis heute Tag für Tag, was er sieht und erlebt, in Notizbüchern auf – sie sind der Stoff, aus dem seine Romane entstehen.
Poetische Kraft
So behutsam und allmählich, wie Hanns-Josef Ortheil lernte, die Welt der Sprache zu verstehen, ist auch dieses Buch geschrieben, oft im Tonfall des seine Identität suchenden Kindes. Der Roman entwickelt zunehmend eine poetische Kraft, die den Leser erst zum stillen, dann zum teilnehmenden Beobachter macht, der erlebt, wie der Junge sich Wort für Wort und Satz für Satz seine Umgebung erobert, selbst auf immer neue Ideen und Gedanken kommt, in der Kölner Wohnung schließlich seinen eigenen kleinen Raum bekommt, in dem er aus seinen vielfältigen Beobachtungen Geschichten und Erzählungen schreibt, einen bemerkenswerten Erfindungsreichtum entwickelt und sich langsam abnabelt von der Fürsorge der Eltern.
Briefe an den Bruder
Die Workshop-Methode der Eltern ist besser als jeder Schulunterricht, weil sie die kreativen Fähigkeiten des Sohnes fördert, ohne sie zu reglementieren:
"Es gab kein Programm, kein Schul- oder Lehrbuch, alles entsprang vielmehr dem grübelnden Gehirn meines Vaters. Was lag also näher, als ebenfalls mit dem Nachdenken und Grübeln anzufangen, um ebenfalls auf gute Schreibideen zu kommen?"
Schreibend entwickelt Ortheil schließlich auch ein Verhältnis zur familiären Vergangenheit und zu einem seiner im Krieg als Kinder gestorbenen Brüder. Er schreibt ihm Briefe:
"Ich schreibe ihm fast täglich, ich rede mit ihm und erzähle ihm 'aus meinem Leben', und ich frage mich, ob er mich nicht von irgendwoher sieht und begleitet, so dass ich ihm gar nicht so genau von meinem Leben erzählen müsste."
Ein autobiografischer Roman, der offen und berührend Zugang zu den geheimen Welten eines außergewöhnlichen Kindes eröffnet.
(Christiane Schwalbe)
Hanns-Josef Ortheil *1951 in Köln, dt. Schriftsteller und Professor für Literatur
Hanns-Josef Ortheil "Der Stift und das Papier"
Roman, Luchterhand 2015, 384 Seiten, 21,99 Euro
eBook 17,99 Euro
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