Valerie Fritsch
Winters Garten
Ein Paradies steht am Anfang, eine fast mythische Gartenkolonie, in der Alte und Junge friedlich nebeneinander leben, in einer verwunschenen Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Ein Sehnsuchtsort. Draußen droht die Apokalypse, bahnt sich der Weltuntergang an, im Zentrum die Stadt, die zusehends verfällt.
Zerfall und Untergang
Anton Winter, der in der Idylle der Gartenkolonie aufgewachsen ist und mit großem Interesse die Fehlgeburten der Großmutter betrachtete, die in Weckgläsern, eingelegt in Formalin, in der Speisekammer standen, ist nach ihrem Tod in die Stadt gezogen und züchtet Vögel. Gleichsam von oben beobachtet er den Zerfall der Zivilisation, den langsamen Untergang der Menschheit.
Apokalyptische Visionen
Und doch verliebt sich der dünne, verschrobene und einsame Mann unsterblich in die blasse, durchscheinende, kantige Frederike, die in einem Geburtshaus arbeitet. Allen apokalyptischen Visionen zum Trotz bleiben die beiden zusammen, lieben sich in einer Art verzweifelter Umklammerung, wissend, dass die Zeit gegen sie ist.
"Der Augenblick, ab dem die große Liebe nicht mehr größer werden konnte, aber nur noch kleiner, fehlte in ihrer Zukunft. … Während draußen die Welt in tausend Stücke fiel, schliefen die Menschen miteinander, weil sie nichts anderes anzufangen wussten mit ihren heilgebliebenen Körpern, als sie zusammenzukleben zwischen all den Scherben. Lust und Liebe erwuchsen aus der Todesangst."
Drohende Zeichen
Sinnlichkeit und Grauen, Leben und Liebe, Geburt und Tod liegen in diesem faszinierenden und beklemmenden Roman dicht beieinander. Anton und Frederike trotzen dem Endzeitszenario, blenden aus, was mit den Menschen um sie herum geschieht, wenn sie die "Nachricht" hören, die das Ende der Welt verkündet – genau weiß man es nicht.
Die drohenden Zeichen mehren sich, die Autorin, selbst Fotografin, zeichnet in dichten und archaischen Bildern das Grauen der Massenselbstmorde,
"die jeden Samstag in der Mitte des Parks, an den Rändern der Stadt oder am Hafen stattfanden … Aus Lautsprechern dröhnte 'Live and Let Die' über die Exekutionsfelder, mischte sich mit den Klängen der Hochzeitsmärsche, zu denen sich jene vermählten, die sich am Abgrund stehend für die Liebe und gegen den Tod entschieden hatten. Niemand wusste welche Wahl die bessere war. So feierten die Gäste der Massenselbstmorde und der Massenhochzeiten Seite an Seite."
Liebe in den Zeiten des Untergangs
Dem drohenden Unheil entziehen sich Anton und Frederike schließlich, sie gehen zurück in die Gartenkolonie, wo sie sich noch ein wenig Frieden erhoffen, begleitet von Antons Bruder, seiner Frau und ihrem gerade geborenen Kind - eine kleine verschworene Gemeinschaft, die dem unabwendbaren Schicksal nicht entgehen wird.
Ein Roman über die Vergänglichkeit und den Zerfall der Zivilisation, über Chaos, Tod und Verzweiflung. Aber auch über die Verheißungen der Liebe. Valerie Fritsch schreibt verstörend und berührend, kein Wort ist in diesem Roman dem Zufall überlassen. Genau und mit großer poetischer Kraft entwirft sie ein Bild über die Liebe in den Zeiten des Untergangs.
(Christiane Schwalbe)
Valerie Fritsch *1989 in Graz, österreichische Photokünstlerin und Autorin, lebt in Graz und Wien.
Im Rahmen der Verleihung des Bachmannpreises 2015 bekam sie den KELAG-Preis und einen Publikumspreis. Ihr Roman wurde nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015 (Longlist).
Valerie Fritsch "Winters Garten"
Roman, Suhrkamp 2015, 154 Seiten, 16,95 Euro
eBook 14,99 Euro