René Freund
Mein Vater, der Deserteur
Eine Familiengeschichte
"Eine Frage wollte ich meinem Vater immer stellen: 'Hast du einen anderen Menschen erschossen?' Ich habe es nie gewagt, meinem Vater diese Frage zu stellen. Heute ist es zu spät. Mehr als drei Jahrzehnte zu spät."
Das Grauen des Krieges
Dies schreibt René Freund gleich zu Beginn seines Buches. Er war zwölf Jahre alt, als sein Vater, Schauspieler, erster Fernsehdirektor des Österreichischen Rundfunks und später Intendant der Wiener Festwochen, starb. Aber vermutlich hätte er auch gar nicht oder nur ausweichend geantwortet - wie so viele Männer, die im Krieg das Grauen gesehen haben und nicht darüber sprechen konnten:
"Vielleicht lag darin der positive Aspekt des Schweigens einer ganzen Generation: Wie hätten es die Kinder verkraften können, dass ihre Väter schreckliche Dinge getan hatten, die im Krieg als normal galten? … Die Schicht der Zivilisation ist dünn, sehr dünn."
Spurensuche
Wenn man dieses Buch gelesen hat, kann man besser verstehen, warum die Väter und Großväter lieber geschwiegen und die Kriegserfahrungen in sich verschlossen haben. René Freund hat eher zufällig das Kriegstagebuch seines Vaters gefunden – nach der Lektüre begab er sich auf Spurensuche, die ihn in Bibliotheken, Behörden und Archive führte, zu Zeitzeugen und – zusammen mit seiner Familie - an Originalschauplätze in Paris und in die Normandie, wo der D-Day den Kriegsverlauf entscheidend veränderte. Aber vorher mussten noch Tausende von Soldaten sterben, als sie versuchten, im Gewehrfeuer an Land zu kommen. Das Meer färbte sich blutrot.
Symbol sinnloser Kriege
Deutsche Besatzung und französische Résistance, ihre Zersplitterung in rechte und linke Gruppen, die Reaktion der Pariser Bevölkerung auf deutsche Soldaten, die "Blitzmädchen", die auch in den besetzten Gebieten für militärische Hilfsdienste bei der Wehrmacht eingesetzt wurden – Freund beleuchtet den Krieg in Frankreich und die Besetzung von Paris. Er erzählt, warum die Stadt nicht, wie geplant und befohlen, zerstört wurde. Er reist auch zum größten Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs nach Verdun, "dessen Name zum Symbol für alle sinnlosen Schlachten aller sinnlosen Kriege geworden ist."
Todesmutig
Freuds Vater war 18 Jahre alt, als er zur deutschen Wehrmacht eingezogen und in Frankreich eingesetzt wurde. Die Gnadenlosigkeit des Tötens und Sterbens hat er nicht lange ertragen: "Eine Woche vor der Befreiung von Paris desertierte mein Vater. In seinem Tagebuch kommt das Wort 'desertieren' nicht vor." Er war todesmutig, denn auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe, gemäß Hitlers Zitat: "Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben." Wie er buchstäblich davongekommen ist, wer ihm half und welche Qualen und Ängste er durchstehen musste, Hunger, Krankheit, Kälte, und wie er von einem "Neger" gerettet wurde - davon erzählt dieses Buch.
Eindrucksvolle Bild
René Freund setzt sich mit dem Kriegstagebuch seines Vaters abschnittsweise auseinander, verzahnt Text und umfangreiche Recherchen miteinander, schildert seine Beobachtungen auf den Reisen mit der Familie und berichtet von Gesprächen mit Zeitzeugen. So entsteht ein sachliches und historisch detailliertes, aber vor allem ein sehr persönliches und bedrückendes Bild, das Kriegsleid und Kriegselend eindrucksvoller beleuchtet als manche historische Abhandlung.
(Christiane Schwalbe)
René Freund *1967 in Wien, lebt als Autor und Übersetzer in Oberösterreich
René Freund "Mein Vater, der Deserteur"
Eine Familiengeschichte
Deuticke 2014, 208 Seiten, 18,90 Euro
eBook 14,99 Euro