Norbert Scheuer
Winterbienen
"Bienen sind nicht aggressiv, sie würden niemals andere Völker erobern und sie unterjochen; sie sind friedfertig, wenn sie sich nicht angegriffen fühlen."
Sinn für die Schönheit
Das unterscheidet ihren wohlgeordneten, gleichwohl totalitären Staat vom Naziregime, das sich im Januar 1944, als die Tagebuchaufzeichnungen Egidius Arimonds beginnen, auf seinen viel zu langwierigen Untergang zubewegt. Der aus dem Schuldienst entlassene Lehrer lebt mit und von seinen Bienenstöcken, und um Medikamente gegen seine epileptischen Anfälle zu kaufen, bringt er verfolgte Juden in Bienenstöcken über die Grenze nach Belgien, unter Lebensgefahr und mit großem Einfallsreichtum. Kenntnisreich und poetisch wird der Jahreslauf der Bienenvölker zum Gegenbild für die Düsternis und Unfruchtbarkeit der Diktatur, etwa wenn sich Egidius beim Schwärmen der alten Königin fragt, warum sie ihren beachtlich funktionierenden Staat kampflos den jüngeren, neuen Regentinnen überlässt:
"Ist es Abenteuerlust, möchte sie endlich erfahren, was außerhalb der dunklen Welt des Stockes existiert? Vielleicht ist es einfach nur die Schönheit der Welt, vielleicht haben Bienen einen Sinn für sie, sind sogar deren Ursprung."
In Zeiten des Krieges
Scheuer idealisiert nicht, sondern bleibt ganz nah am Erleben des Krieges in der entlegenen Eifel-Region, der er bereits in vielen Romanen literarische Glanzlichter entzündet hat. Den Frauen ist sein neuer Held aus der weitverzweigten Arimond-Familie ebenso zugeneigt wie sein entfernter Vorfahr Ambrosius, dessen Leben um 1500 der lateinkundige Mann in der örtlichen Bibliothek erforscht. Nähe zuzulassen, ist in Zeiten des Krieges und diverser Liebschaften riskant:
"Ich möchte nicht, dass sie zu mir nach Hause kommt, möchte keine allzu große Nähe; sie soll nicht zu viel von mir erfahren oder gar Teil meines Lebens werden. Sie erzählt mir Dinge, von denen ich nichts wissen will, redet von Liebe. Ich kränke sie mitunter, wenn ich ihr sage, es gebe keine Liebe, sondern nur Verführung und Begierde, und unsere Lust habe mit Tugend nichts gemein."
Der Benediktinermönch Ambrosius, der im Kloster Traktate von Nikolaus von Cusanus kopierte, wurde 1502 wegen einer Frau exkommuniziert, nachdem er als Junge das einbalsamierte Herz des gelehrten Kardinals Cusanus über die Alpen bis in seine Heimatstadt Kues an der Mosel begleitet hatte. Aus dem Kloster vertrieben, wurde er erfolgreicher Bienenzüchter und geachteter Bürger.
Die Ordnung der Bienen
Norbert Scheuer verknüpft die Fragmente dieser außergewöhnlichen Geschichte elegant mit den Beobachtungen im Tagebuch des Egidius, das die Kriegswirklichkeit, die ständige Bedrohung durch Nazibonzen und zur Denunziation bereite Mitläufer immer dichter umkreist. Ohne Medikamente droht die Epilepsie, Egidius‘ Gedächtnis zu zerstören, während ihm die Verfolger näherkommen.
"Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange Jahre zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum."
Zugleich findet er in der Ordnung der Bienen, ihrer Art des Überlebens Trost und Halt, und diese Passagen öffnen im Roman einen großen Resonanzraum, weit über die Zeit des zweiten Weltkriegs und die eines einzelnen Schicksals hinaus. Im September 1944 notiert er, dass nicht alle sterbenden Sommerbienen durch Winterbienen ersetzt werden, denn um die kalte Jahreszeit zu überleben, bedarf es nicht so vieler Bienen.
"Sie bilden in den ersten frostigen Nächten eine Traube, in der sie sich gegenseitig wärmen. Sie krabbeln dann wie in Zeitlupe um die Waben herum und verständigen sich durch Gerüche und Berührungen. Wenn man ihnen zusieht, ist es, als blickte man in ein träumendes Gehirn. Irgendwann wird das Leben der Bienen sich mit meinem vermengen, ihres und meines werden sich dann nicht mehr unterscheiden lassen; es wird dunkel sein wie in einem Bienenstock im Winter."
Die Hoffnung der Menschen
Die Bienen jedenfalls gelangten aus den Alpen in die Eifel und überlebten dort, und nicht zufällig ist die Bibliothek der Ort, wo sich verbotene Bücher ebenso verbergen und finden lassen wie die großen Geschichten früherer Zeiten. In Norbert Scheuers kunstvoller Geschichte ist sie sogar Ort des Widerstands, denn Egidius‘ gefährliche Rettungsfahrten werden von hier aus auf den Weg gebracht. Ein großartiger Roman über Mut und Angst, Chaos und Ordnung und die Hoffnung der Menschen.
(Lore Kleinert)
Norbert Scheuer, * 1951, freier Schriftsteller, ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, lebt in der Eifel
Norbert Scheuer "Winterbienen"
Roman, Verlag C.H.Beck 2019, 319 Seiten, 22 Euro
eBook 17,99 Euro