Peggy Mädler
Wohin wir gehen
Fontane Literaturpreis 2019
"Plötzlich ist da die Idee im Kopf, nach den alten Straßen und Häusern zu suchen … Die Bilder im Kopf mit der Realität abzugleichen. Aber da gab es nichts abzugleichen. Die Erinnerung ist ein schlechter Reiseführer, … sie will dir immer nur zeigen, was nicht mehr da ist."
Unzertrennliche Freundinnen
Das schreibt Almut auf einer Postkarte an Rosa in Rom, nach einer Reise in die Vergangenheit, die Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hat, in Brünn in der Tschechoslowakei. Almuts Mutter musste die Stadt wegen einer "liederlichen Romanze" verlassen, an der Seite von Karl, den die Familie nicht akzeptiert und den sie dennoch heiratet. Almut wird in Reichenberg geboren, in der Stadt der Tuchmacher und Färbermeister. Viele Jahre ist das her, die Mutter und Ida waren befreundet und dann auch Idas Tochter Rosa und Almut. Sie wurden beste Freundinnen, unzertrennlich, wuchsen wie Schwestern auf, erst in Böhmen, dann in der DDR.
Orte der Erinnerung
Parallel dazu erzählt Peggy Mädler die Geschichte einer zweiten Freundschaft, eine Generation später, die von Kristine und Elli, Almuts Tochter. Die beiden lernen sich bei der Arbeit am Theater kennen, Dramaturgin die eine, Ausstatterin die andere. Auch ihre Biografien sind alles andere als gradlinig, sie gehen getrennte Wege, haben oft Mühe, die Nähe auch in der Ferne zu erhalten:
"Kristine weiß, dass Elli nicht Berlin an sich vermisst, sondern das Gefühl, in einer Stadt ganz selbstverständlich zu Hause zu sein – weil es Tage gibt, an denen ich nicht mehr weiß, wo ich eigentlich zuhause bin."
Schließlich zieht Elli nach Basel, und Kristine kümmert sich um ihre Mutter Almut. Der Kreis schließt sich.
Schicksalsschläge
"Heim ins Reich" heißt es 1938, Einmarsch der Nationalsozialisten in Reichenberg, Almut lernt:
"Nicht offen reden, nicht auffallen, ruhig sein, nicht zu viel erzählen, am besten gar nichts erzählen, wenn eine Mitschülerin morgens auf dem Schulhof scheinheilig fragt: Und, habt ihr gestern auch BBC London gehört?"
Rosas Mutter Ida verliert den Bruder in Dachau und ihren Mann in Stalingrad. Almuts Vater stirbt plötzlich am Schlaganfall, die Mutter erhängt sich. Dann die Vertreibung aus Böhmen, die "Umsiedlung", wie es in der DDR heißt, Almut darf mitgehen in die neue Heimat, nach Kirchmöser in der DDR, in der Ida eine linientreue Kommunistin wird.
"Sie will nichts gemein haben mit den Menschen, die dem Faschismus sehenden oder geschlossenen Auges in die Arme gelaufen sind. Die sich Hände oder Köpfe schmutzig gemacht haben oder beides."
Rosa und Almut entscheiden sich für den Beruf der Lehrerin, aber Rosa verlässt die DDR plötzlich und heimlich. Almut wird dafür bestraft, man unterstellt ihr, von der Flucht gewusst zu haben. Sie verliert den Job, ihre Ersatzfamilie, muss als Arbeiterin in die Fabrik. Und lernt wieder einmal: "Das Herz nicht an Dinge, Orte oder Gewohnheiten hängen."
Drei blaue Fahnen
Mädler erzählt nicht chronologisch, sondern "sortiert" nach Orten: Reichenberg, Pirna, Kirchmöser, Berlin, Rom, sie springt von der einen Freundschaft in die andere, verzahnt vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse die Biografien der Menschen miteinander, macht Prägungen sichtbar, unterschiedlichen Charakterzüge. Selbst in der DDR aufgewachsen, schildert sie - zum Teil sehr komisch - die Anfänge der sozialistischen Republik, das Leben in einem Dorf, die materiellen Einschränkungen und bürokratischen Hürden, inklusive der Kuriositäten eines Alltags, in dem ein Funktionär ein ganzes Jahr lang einen Briefwechsel führt, um Zellwolle für drei blaue Fahnen für die Freie Deutsche Jugend zu ordern.
Ein Leben leben
Vielleicht ist es die ungeheure Fülle des Stoffes, den Peggy Mädler auf gerade mal 200 Seiten unterbringt, vielleicht sind es die Sprünge zwischen der einen und der anderen Biografie und die damit verbundenen Erinnerungen, die diesen Roman manchmal verwirrend machen - eine Episode ist noch nicht wirklich zu Ende erzählt, da finden uns schon in der anderen Freundschaft in einer anderen Zeit wieder. Aber diese Brüche symbolisieren zugleich die Brüche des 20. Jahrhunderts und ihre Folgen für die Menschen: Besatzung, Vertreibung, Flucht, Krieg, Verfolgung, Angst und Glück, Weggehen und Ankommen, Krankheit und Tod. Die Autorin verzichtet auf große Worte für große Gefühle, sie erzählt knapp, klar und einprägsam:
"Sie ist geblieben und nicht weggegangen wie Rosa. Sie hat sich Ida und dem Land wie ein Mündel verpflichtet gefühlt. Oder wollte sie einfach nur bleiben, nicht noch einmal weggehen? Wer weiß schon, wie man ein Leben lebt? Über die Jahre lernt sie, ihr eigenes zu lieben."
(Christiane Schwalbe)
Peggy Mädler, *1976 in Dresden, freie Dramaturgin und Autorin
Peggy Mädler "Wohin wir gehen"
Roman, Galiani Berlin 2019, 224 Seiten, 20 Euro
eBook 16,99 Euro
Peggy Mädler wird im Jahr des 200. Geburtstages von Theodor Fontane mit dem Fontane-Literaturpreis der Fontanestadt Neuruppin und des Landes Brandenburg ausgezeichnet.