Ursel Bäumer
Louise
„Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten der letzten fünfzig Jahre, für alle meine Themen, ist in meiner Kindheit zu suchen. Meine Kindheit hat nie ihre Magie verloren, sie hat nie ihr Geheimnis verloren, und sie hat nie ihr Drama verloren.“
Reise in die Jugend
Was Ursel Bäumer zur Quelle der Inspiration für ihren Roman wurde, hatte Louise Bourgeois in ihrem „Album“ von 1994 festgehalten, und das Buch nimmt uns mit auf eine Reise in die Traumata der Jugend und erschließt die Welt der später weltberühmten Künstlerin mittels Sprache und schriftstellerischer Phantasie. Die kaum zwanzigjährige Louise würde alles dafür geben, ihre kranke Mutter wieder gesund werden zu lassen. Hingebungsvoll pflegt sie sie, stellt lange alle eigenen Wünsche im Hause des Vaters in Antony nahe Paris zurück, zeichnet und schreibt und unterstützt die Arbeit in der Werkstatt, wo Tapisserien hergestellt und restauriert werden.
„Arbeit, Pflicht und Tugend. Travail, Devoir, Vertu. TDV, drei Buchstaben auf dem Umschlag meines Tagebuchs, damit sich die Wörter fest einprägen. Meine magische Formel. Meine Rettung, denn ich habe keine Zeit zu verlieren. So ist es doch, Maman. Wieviel Zeit bleibt uns noch?“
Außergewöhnliche Fantasie
Ihre Hoffnung, die kranke Lunge der Mutter werde sich erholen, bindet sie an Elternhaus und Krankenlager, und mit großem Feingefühl erschließt Ursel Bäumer die Spannungen, die sich quälend auf die Hoffnungen der jungen Frau legen. Zugleich aber lassen sie Wege aufleuchten, die in Freie, hinaus aus der engen und frauenfeindlichen Welt im Vaterhaus führen könnten. Was sie bindet, ist die große Liebe zur Mutter, bis hin zur Selbstauslöschung. Doch das ist nicht nur Qual: auch jegliche spätere Kreativität, ihre außergewöhnliche Fantasie speisen sich aus den Einschränkungen dieses Frauenlebens und der frühen Ahnung, dass das Leben inmitten der Wollfäden und bunten Teppiche neu erfunden werden kann:
„Meine Schränke sind voll von Spiegeln, Kämmen, Medaillons, Stoffen, Knöpfen, Spindeln, allen möglichen Woll- und Teppichresten und kleinen Nadeln. Wer wüsste es besser als du, was das für Zauberwerkzeuge sind, die stechen und wehtun, aber auch mit magischer Kraft Dinge zusammenhalten. Wie könnte ich da fortgehen, wo hier alle Schränke mit solchen Kostbarkeiten gefüllt sind!“
Abschied von der Mutter
Die „Kostbarkeiten“, die Welt der schönen Dinge muss die junge Frau verlassen, muss sich selbst neu erfinden, die Mutter loslassen, - ohne sie zu verlieren. Welche Kraft es sie kostet, weiter kosten wird, etwa als Ehefrau eines berühmten Museumsdirektors in New York, deutet Ursel Bäumer in wunderbar komponierter, schöner Sprache an, die ihrer Louise Raum gibt, sich zu entwickeln, zu bewegen, ihr eigenes Terrain zu erobern. Die Ergebnisse werden heute in den Museen der Welt bestaunt und wegen ihrer außergewöhnlichen Kraft und Originalität bewundert. Wie viel sie vom Abschied von ihrer Mutter und der Liebe zu ihr geprägt wurden, lässt sich unschwer erkennen: die riesigen Spinnenfiguren, ihre ‚mamans', die zu Stofffiguren verarbeiteten Kleidungsstücke aus Kindheit und Jugend, umgeben von zierlichen Käfigen, und vieles mehr legen Zeugnis davon ab.
„Es ist kein Abschied, sondern ein Restaurieren, ein Wiedererschaffen deiner Anwesenheit. Réparation, Maman, nicht wahr. Sich an dünnen Fäden aus Erinnerungen, Bildern und Orten entlanghangeln, sie neu verweben, reparieren und kontrollieren.“
Wie einen Schatz hat Louise Bourgeois diese Erinnerungen gehütet und große Kunst daraus geschaffen. Erst als sie erkannte, dass sie ihre eigenen Träume verwirklichen musste und nicht die Erwartungen aller anderen, ist es ihr gelungen. Berühmt wurde sie spät, als im Zuge der Frauenbewegung in den 70iger Jahren ihre Themen als relevant und ihre Arbeitsweise als einzigartig erkannt wurden. Indem sich die Autorin auf die ‚Fäden der Erinnerung‘, das Ringen mit dem inneren Chaos, die Notwendigkeit einer neu zu erschaffenden Kunst konzentriert, gelingt es ihr in ihrem Roman, den Weg einer Frau und Künstlerin zum Leuchten zu bringen.
„Was für ein Glück, Nein sagen zu können. Was für ein Glück, die Erwartungen der Vergangenheit abzuwerfen und neu anzufangen.“
(Lore Kleinert)
Ursel Bäumer, *1950 in Münster, Studium der Germanistik und Kulturwissenschaft, freie Autorin, lebt in Bremen.
Ursel Bäumer „Louise“
Roman, Verlag Nagel und Kimche 2023, 223 Seiten, 24 Euro
eBook 16,99 Euro