Sylvie Schenk
Maman
Shortlist Deutscher Buchpreis 2023
Sie war die Tochter und Enkelin von Seidenarbeiterinnen in Lyon, aber der Hungerlohn in den Webereien reichte zum Leben nicht aus. Also prostituierten sich die Frauen, um nicht zu verhungern - und wurden ungewollt schwanger. So erging es auch Cécile, als sie 1916 mit 45 Jahren ihr drittes Kind zur Welt bringt. Die beiden anderen sind gestorben.
Die Seele zum Schweigen gebracht
Mutter Cécile verblutet, das kleine Mädchen, nach ihrem Wunsch Renée genannt, hat kaum eine Chance zum Überleben – gäbe es nicht eine Krankenschwester, die sich liebevoll um sie kümmert, ehe sie ins Waisenhaus kommt. Eine arme Bauernfamilie nimmt Renée auf, bekommt dafür Geld von der Fürsorge.
„Der magere hustende Säugling, der ihnen anvertraut wird, ist kein Mensch, er ist ein Mittel zum Zweck, ein Vehikel, das Geld bringt, er kann keine Zuneigung erwarten."
Das Kind wird körperlich und seelisch vernachlässigt, kränkelt, lebt in Angst und Schrecken vor den Tieren auf dem Hof und wird trotz eines bedenklichen Berichts der Fürsorge erst mit sechs Jahren nach Lyon zurückgeholt. Ein kinderloses Ehepaar adoptiert Renée, bemüht sich rührend und mit viel Liebe um sie. Aber das Kind ist längst für's Leben gezeichnet,
„ ... als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht ... "
Weißer Elefant
Als Schülerin wird sie in der Klasse gehänselt, bleibt eine Außenseiterin, erlebt immer wieder verächtliche Ablehnung - ein Findelkind, ein Kind von der Straße. Renée ist Maman, Sylvie Schenks Mutter.
„Ich werde nie erfahren, woher meine Mutter stammt. Meine Geschwister und ich können nur das trockene, bürgerliche Vatererbe dokumentieren. Die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter, die Textilarbeiterinnen und Wäscherinnen sind zu einem weißen Elefanten unserer Fantasie geworden, ein Tier, das uns immer noch weiter in ausgefranste Gebiete zieht."
Den Makel ihrer Herkunft behält Maman ein Leben lang - trotz der Ehe mit einem Zahnarzt und bürgerlichen Wohlstands wird sie für ihre Kinder - vier Töchter und ein Sohn - eine Fremde bleiben, die „nur mit der Wäsche und mit Babys" sprach, leise vor sich hin murmelnd. Sie erzählt nichts über die Vergangenheit oder gar ihr Gefühl, überall fehl am Platz und „eine Idiotin zu sein", ein „Mädchen ohne Talente".
„Ich habe sie geliebt, wie man ein seltsames Wesen liebt, das zu einem gehört, ein Geheimnis, das man bewahrt. Eine Raritätenmutter, die man beschützen muss, auch wenn ich sie manchmal abstoßend fand. ... Sie hielt sich an der Türklinke fest, an der Teekanne, dem Strickzeug, dem Nähzeug, dem Einkaufskorb, dem Portemonnaie, den Kochtöpfen. ... Ihr Leben war ein Mosaik aus kleinen Handgriffen."
Bessere Jahre erdichten
Lisa, Silvies Schwester, recherchiert in Lyon – mit wenig Erfolg, die Aktenlage ist spärlich und die Großeltern sind tot, sonst gibt es keine Zeugen. „Ich schlüpfe also in Mamans Leben", sagt die Autorin einmal, und versucht aus Erinnerungen und Beobachtungen, den Informationen von Großmutter Marguerite, ihrem eigenen Leben in Deutschland, den Beobachtungen der Geschwister und den Erinnerungen an die väterliche Familie ein Bild zusammenzusetzen, das dem Leben der Mutter gerecht werden könnte. Immer wieder spürt sie den möglichen Empfindungen von Maman nach, ihren Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen:
„Ich möchte ihr für die Zeit zwischen Schule und Heirat die vier besseren Jahre ihres Lebens erdichten, vier Herbste, in denen sie mit Marguerite Maronen röstet und lernt, Kartoffel- und Kürbisgratins vorzubereiten, vier Winter, in denen sie mit ihr zuhause ihre Aussteuer näht oder in Teestuben warmen Kakao trinkt ..."
Aus dem Nichts retten
Das Wenige, was herauszufinden ist, verknüpft Sylvie Schenk mit zeitgeschichtlichen Fakten - deutsche Besetzung Frankreichs, drohender Weltkrieg, Widerstandsbewegung, die Jagd nach Partisanen, Gestapo-Chef Klaus Barbie als „Metzger von Lyon". Dazu die Geschichten ihrer drei Schwestern, die allesamt unverheiratet schwanger werden, ihres Bruders, den eine Lehrerin verführt, Hinweise über Freundschaften von Maman, sogar eine Affäre und ihr Mut, die Familie zu verlassen.
Ein berührendes, auch erschütterndes Buch, in dem Sylvie Schenk aus Realität und Fiktion ein zartes Mosaik zusammenfügt, das ihrer Mutter ein Denkmal setzt:
„Schreiben. Maman aus dem Nichts retten ... meine erste und letzte Umarmung."
(Christiane Schwalbe)
Sylvie Schenk, *1944 in Frankreich, seit 1966 in Deutschland, Ausbildung zur Lehrerin, deutsch-französische Schriftstellerin, lebt in Stolberg/Aachen
Sylvie Schenk "Maman"
Roman, Hanser 2023, 176 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro