Anna Burns
Milchmann
Die namenlose Ich-Erzählerin ist die "Mittelschwester" in der Schar ihrer neun Brüder und Schwestern und lebt noch zuhause. Eine eindeutige Liebesbeziehung will sie nicht, weshalb sie nur Vielleicht-Freund hat, und Milchmann ist gar kein Milchmann, sondern ein deutlich älterer Mann, der der 18jährigen nachstellt.
Horrormärchen
”Der Tag, an dem IrgendwerMcIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb”.
Das Ende als Anfang einer atemlos erzählten Geschichte vom Leben im Ausnahmezustand eines Bürgerkriegs, der sich überall abspielen könnte, auch wenn klar ist, dass wir uns im Belfast der 1970er Jahre und damit mitten im nordirischen Bürgerkrieg befinden. Aber der steht nicht im Vordergrund. “Mittelschwester” ist eine widerspenstige junge Frau, die im katholischen Viertel lebt und sich den Regeln, die Nachbarschaft, Mutter, Schwager und Schwester für sie vorsehen, konsequent widersetzt – was ihre Mutter zur Verzweiflung treibt:
“Sie malte sich Horrormärchen aus, füllte überall, wo ich ihr Informationen verweigerte, die Leerstellen selbst.”
Die, die im Gehen liest
Am liebsten sähe sie ihre Tochter unter der Haube, stattdessen lernt diese französisch, interessiert sich für griechisch-römische Altertumswissenschaften und liest leidenschaftlich gern, auch im Gehen, vorzugsweise Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Der Schwager warnt sie:
“Diese Bücher, sagte er. Und dieses Spazieren und jetzt ging er es aus einer anderen Richtung an, nämlich, dass ich in die hintersten Winkel der Finsternis verbannt und unwiederbringlich als eine der Übergeschnappten des Bezirks geächtet werden würde, wenn ich nicht langsam aufpasste. Man spreche von mir bereits als 'Die, die im Gehen liest' ...”
Ihr wird eine Affäre mit Milchmann angedichtet, die sie in den Augen der anderen zum unmoralischen Flittchen macht. Aber in Ausnahmesituationen gelten andere Regeln, härtere Kontrollen, und Repressionen sind an der Tagesordnung:
“Trinken, kämpfen und Aufstände anzetteln waren an der Tagesordnung, ganz normal, ja notwendig, kaum als Normabweichung zu erkennen. Auch schwer zu erkennen war die ganze Palette an Klatsch, Heimlichtuerei und sozialer Kontrolle sowie die Regeln dessen, was erlaubt war und was nicht, die bei uns einen hohen Stellenwert hatten.”
Verlust von Gefühlen
Aber diese ungemein mutige junge Frau verweigert jede Anpassung. Ihr gesellschaftlicher Ruf ist sowieso hin, sie geht ihren eigenen Weg. Klug und genau beobachtet sie den gesellschaftlichen Wandel bis hin zur Deformation der Menschen, springt in Gedanken hin und her zwischen Milchmann, Familie, Vielleicht-Freund, frommen Frauen bis zur Mobilisierung der “Themenfrauen”, die über Emanzipation diskutieren und sich trotz Ausgangssperre auf die Straße trauen – mit Kindern, Hamstern, Kaninchen und sonstigen Haustieren. Polizei und Militär würden nicht wagen, sie zusammenzuschießen. Aber in diesem System von moralischer Kontrolle, Sexismus, Angst und Gewalt gehen Gefühle verloren.
“Natürlich hielt ich mich für empfindungsfähig. Natürlich wusste ich, dass ich wütend war, natürlich wusste ich, dass ich Angst hatte ..."
Nach und nach verdrängt sie Gefühle, die emotionale “Stumpfheit aus dem Nichts” macht sie auch für sich selbst unzugänglich - “Mein Innenleben, so schien es, war einfach weg.”
Der große Hass
Konsequent bleiben Protagonisten und Orte namenlos, die Erzählerin umschreibt und erklärt detailreich, mit genauem Blick auf die Angst in der Bevölkerung vor Terror und Gewalt, vor ständiger Bedrohung, blickt ins “Land auf der anderen Seite der See”, schweift in Gedanken ab zu “Buschfunk”, Milchmann, Paramilitärs, Bombenanschlägen und Religionskonflikten, zu den Mechanismen eines unterdrückenden Systems von politischer Gewalt und zum “Großen Hass der Siebziger”.
Dieses ungewöhnliche, eindringliche und großartig übersetzte Buch mit all den ausufernden, dramatischen, aber auch komischen Exkursen, ähnlich einem großen inneren Monolog, überzeugt mit kraftvoller Sprache und ist keine ganz leichte, aber eine überaus lohnende und über weite Strecken sehr unterhaltsame Lektüre.
(Christiane Schwalbe)
Anna Burns, *1962 in Belfast, Nordirland, englische Autorin mehrerer Romane, der Roman "Milchmann" ist international mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, sie lebt in East Sussex, England
Anna Burns "Milchmann"
aus dem Englischen übersetzt von Anna-Nina Kroll
Tropen Verlag Stuttgart 2020, 452 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro