Dani Shapiro
Leuchtfeuer
„Zeit fällt in sich zusammen. Es gibt keine gerade Linie. Erinnerung, Geschichte, Ereignisse, die vor fünfzehn oder fünfzig Jahren passiert sind – alles ist so frisch, als wäre es gerade passiert oder würde bald geschehen.“
Autounfall
Dani Shapiros Roman spielt mit der Zeit, virtuos und originell durchkreuzt er die Geschichte der Familie Wilf zwischen 1970 und 2020. Der Arzt Ben Wilf verbringt 2010 seine letzte Nacht im gemeinsamen Haus in der Division Street in Avalon, das längst kein Heim mehr ist: Seine Frau Mimi hat Alzheimer, die Kinder sind längst ausgezogen, die Kisten gepackt. In dieser Nacht beginnt seine Freundschaft mit dem 10jährigen Waldo aus dem Haus gegenüber, bei dessen Geburt er hilfreich war. Das hochbegabte Kind erklärt ihm den Sternenhimmel und seine Gesetze.
Wie sehr die Familie Wilf vor vielen Jahren traumatisiert wurde, wird erst allmählich deutlich, obwohl der Autounfall, den der 15jährige Theo Wilf 1970 mit dem Buick seiner Mutter und ohne Führerschein verursachte und bei dem das Mädchen auf dem Vordersitz ums Leben kam, gleich zu Beginn im Fokus steht. Sarah, die Schwester des Jungen, nahm damals die Schuld auf sich, um den Bruder zu schützen, und Vater Ben half beim Vertuschen, um seine Kinder zu schützen. Wie aber lebt man mit der Schuld?
Abgrund
Wie im Kaleidoskop kommen die Beteiligten zu Wort, Jahre später, und Sarah, inzwischen erfolgreiche Drehbuchautorin, hat einen hohen Preis gezahlt, sie sieht sich am Rande eines Abgrunds:
„Sie selbst, Sarah Wilf, ist es, die fehlt. Sie ist hier, klar. Aber irgendein wesentlicher Teil von ihr ist nicht wirklich präsent. Das trifft schon so lange auf sie zu, dass sie es kaum noch merkt. Und jemand anders schon gar nicht… Ihre stärksten Selbstschutztaktiken – das Schweigen des Vaters, das stolze Weitermachen ihrer Mutter – verfestigten sich, warfen dunkle Schatten auf ihre jüngeren, besseren Ichs: Humor, Ironie, Witz, Freude sind verkümmert.“
Ihr Bruder verschwindet jahrelang, bis er nach seiner Rückkehr der berühmte Chef eines Restaurants wird.
Das Familiengeheimnis wird die Familie beherrschen, und die Shenkmans, die Nachbarn von gegenüber mit dem genial begabten Sohn Waldo verbergen ihre eigenen Geheimnisse. Sein Vater hat sich einen ‚normaleren‘ Sohn gewünscht, und aus Ben Wilfs Geburtshilfe entstand keine Freundschaft mit den Eltern, nicht einmal Nähe. Erst als er das Haus verlassen hat, denkt Alice, Waldos Mutter darüber nach:
„Sie hatte nicht mal gewusst, dass Benjamin Wilf die letzten Jahre allein in dem Haus gewohnt hat, dass seine Frau an Alzheimer erkrankt war. Er muss so einsam gewesen sein. Und derweil waren sie, die egozentrischen, ängstlichen, ach so zurückhaltenden Shenkmans, im Hamsterrad ihres Lebens. Arbeiten, produzieren, funktionieren, zupacken, schlafen, wiederholen.“
Horizonte
Fünfzig Jahre Leben umspannt Dani Shapiros Roman, die Straße in Avalon gleicht einer Galaxie, in der Sterne kollidieren und verschwinden, während sich zwischen den Personen Verbindungen herstellen, die sie sich nicht vorstellen konnten und die dennoch über enge Horizonte hinausreichen. Das Kind Waldo mit seiner Begeisterung für Sternenhimmel und astrologische Rätsel spielt dabei eine besondere, anrührende Rolle, mit der die Autorin ihren Begriff von Zeit und Geschichte zuspitzt - Waldo,
„Erbe von allem: der Wut, der Angst, der Gutherzigkeit, der Verwirrung, der Einsamkeit, des Überlebensinstinkts, der sich von dem Krankenhaus in Avalon über ein Haus in New Jersey bis hin zu einem Stetl erstreckt, in einem Land, das es nicht mehr gibt. Auch das wird er tragen.“
Und er wird immer wieder auf den Arzt treffen, der ihn zur Welt brachte, ihre Schicksale berühren sich und aus Waldos Besessenheit für den Sternenhimmel wird tiefes Verständnis für die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis des Universums.
Trauer
Auch die anderen, die sich durch falsche Entscheidungen und Familiengeheimnisse zum Schweigen verurteilt haben, sind Teil dieser anrührenden Meditation über Erinnerung, Familie und die heilende Kraft menschlichen Miteinanders. Wie Dani Shapiro all diese Erzählfäden verknüpft und den Personen durch ihre Sprache Authentizität und große Lebendigkeit verleiht, sorgfältig und reich an Details, ist außerordentlich. Als sie längst nicht mehr in Avalon wohnen, treffen sich Ben Wilf und Waldo immer wieder, und der zukünftige Professor der Astronomie tröstet den alten, verwitweten Arzt, der um die Vergangenheit trauert.
„Es wird nicht verschwinden…Wenn man die Zeit als Ganzes begreifen könnte, würde man sehen, dass die Vergangenheit bestehen bleibt und nicht im Rückspiegel verschwindet.“ „Glaubst du das?“ fragte Ben. „Das ist keine Glaubensfrage. Das ist Physik“, antwortet Waldo.“
(Lore Kleinert)
Dani Shapiro, *1962 in New York City, ist Autorin, Dozentin und Host eines erfolgreichen Podcasts, „Leuchtfeuer“ wurde mehrfach ausgezeichnet und war ein Bestseller in den USA, sie lebt in Connecticut und entwickelt Leuchtfeuer zur Fernsehserie
Dani Shapiro „Leuchtfeuer“
aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Roman, hanserblau 2024, 286 Seiten, 23 Euro