Zadie Smith
Betrug
„Wie hatte sie so lange leben, so angestrengt nachdenken und doch so wenig begreifen können!“ Diese Erkenntnis steht am Ende des langen Lebens von Eliza Touchet und am Ende eines großen Romans, über Leben und Dichten im viktorianischen Zeitalter und die Menschen, die sich mit beiden Herausforderungen abplagten.
Grausame Verzögerungen
Mrs. Touchet hatte nach drei Jahren Mann und Kind verloren, und statt sich vor lauter Kummer aufzuhängen, war sie ihrem jugendlichen Cousin gefolgt. William Ainsworths junger, erster Frau Frances war sie ebenso zugetan und verpflichtet wie ihm selbst und hielt den Haushalt kreativ in Gang. Als er zunächst Erfolge als Dichter feierte und später nicht mehr, blieb sie der Halt seiner Familie, auch als Frances’ Töchter längst erwachsen waren und Sarah aus Londons Slums als neue Mrs. Ainsworth antrat. Eine Familiengeschichte hat Zadie Smith dennoch keineswegs geschrieben, sondern sie entwirft ein komplexes Bild der Zeit, als die geringen Möglichkeiten von Frauen sich vor allem nach ihrem Aussehen maßen.
„Doch Spiegel haben nun einmal die widernatürliche Angewohnheit, einer Frau die eigene Schönheit nie im gegenwärtigen Moment zu offenbaren, sie fußen vielmehr auf einem System grausamer Verzögerungen. Und so kam es, dass sie mit fünfundzwanzig Jahren in den Spiegel schaute und nichts als ein knochiges Weib ohne jeden Reiz erblickte.“
Früher Erfolg
Mit Mrs. Touchet als durchaus unzuverlässiger Führerin durchqueren wir die Zeiten, jedoch ohne dass ihre Erinnerungen und Beobachtungen die Möglichkeiten der Leserinnen allzu sehr einengen, auf viktorianisches Maß einer intelligenten Person, mit der man gern in der Geschichte versackt. Lesenswerte Bücher dieser Art gibt es genug, Zadie Smith wagt jedoch eine Auseinandersetzung mit Kreativität und Erfolg, mit Wahrhaftigkeit und Verstrickung, und das weist weit über einen historischen Roman hinaus. Ihre Staffelung und ausgefeilte Komposition kürzerer Kapitel verleiht diesem Versuch einen sehr anregenden Rhythmus, der den Wechsel von Ort und Zeit, Erinnerung und Gegenwärtigkeit nachvollziehbar und unterhaltsam macht. Das literarische Vorbild William Ainsworth lebte 76 Jahre lang, bis 1882, und das erfolgreichste Buch des Vielschreibers über den Abenteurer Jack Sheppard wurde seinerzeit mehr gefeiert und verkauft als Charles Dickens‘ David Copperfield, für den Autor im Roman ein langanhaltendes Vergnügen, für Mrs. Touchet eher zweifelhaft:
„Im Lauf der Jahre war es ihm trotz allem gelungen, so einiges in die Welt zu setzen, was vorher nicht dagewesen war. Speckseiten, Linden und Dick Turpin, der durch Cricklewood galoppiert.“
Seine Cousine schreibt seinen frühen Erfolg keiner besonderen Begabung ihres Cousins zu, sondern vielmehr dem Umstand,
„dass ein Großteil der Leute sich doch als ausnehmend leicht zu beeinflussen erweist, mit Köpfen gleich einem Sieb, durch dessen Löcher die Wahrheit fällt. Fakt und Erfindung verschmelzen in ihrem Geist.“
Ein Treffen ihres Cousins mit Charles Dickens wird ihr letzter „großer heimischer Erfolg“, denn ihr oblag es, die illustren Dichtertreffen dieser Jahre auszugestalten, und eine Zeitlang kann sie sich als geistreiche Gesprächspartnerin in Szene setzen.
Über das Altwerden
Doch nachdem Frances starb und die Töchter zunächst in Internaten verschwinden, widmet sich William seinem Schreiben, „und Mrs. Touchet, jeder Beschäftigung beraubt, stellte sich der Leere.“ Ihre Reflektionen über das Altwerden gehören zu den berührendsten Passagen dieses Romans.
“Das Altwerden erwies sich als höchst eigentümliche Angelegenheit. Sie erfuhr so viel Neues über die Zeit. Wie sie sich verdrehen und verbiegen konnte, bis die Vergangenheit der Gegenwart gegenübertrat und umgekehrt. Sie war sowohl dort als auch hier, im Damals wie im Jetzt, es war belebend, mitunter jedoch auch recht verwirrend.“
Das Buch, das sie selbst heimlich verfasst, trägt zwar den Titel „Betrug“, ist im Roman aber der Versuch, einer Geschichte näherzukommen, die sich so oder so ähnlich im viktorianischen London abspielte. Im „Tichborne-Fall“ versuchte ein Schlachtergeselle aus Wapping nach seiner Rückkehr aus Australien, sich als verschollener Sohn einer reichen und angesehenen Familie auszugeben, der auf dem Weg nach Jamaika verschollen war. Ein schwarzer ehemaliger Sklave wurde sein Kronzeuge, wider alle Gewissheiten, und seine, Andrew Bogles Geschichte weckt Mrs.Touchets Interesse an der Standhaftigkeit und offensichtlichen Glaubwürdigkeit des schwarzen Menschen. Doch wie Zadie Smith sie erzählt, folgt sie anderen Gesetzen der Erinnerung.
„Sie hatte leben wollen! Obgleich sie stets gewusst hatte - schon seit sie ein kleines Mädchen war -, dass es sich bei diesem Wunsch nicht um ein für Frauen schickliches Verlangen handelte, womöglich nicht einmal um ein gottgefälliges. Sie wollte leben. Ihren eigenen Versuch im Leben wagen, zu ihren Bedingungen, und die Versuche anderer verteidigen, so armselig, vergessen, erniedrigt und verachtet sie auch sein mochten!“
Gegnerin der Sklaverei
Die viktorianische Lady, so unangepasst sie auch erscheinen mag, vermag die Grenze, Bogles Motive zu verstehen, nicht zu durchdringen, und geschickt, wenngleich etwas überlang, hat Smith Black Bogles Erzählung als Buch im Buch in den Roman eingebaut. Ein starkes Motiv, sich für die Rechte der Unterdrückten einzusetzen, hat Mrs. Touchet als entschiedene Gegnerin der Sklaverei zwar durchaus, doch Smith‘ Roman reflektiert die Grenzen dieses Engagements immer mit, besonders vergnüglich in der Gestalt von Ainsworths neuer und letzter Ehefrau Sarah, die sich als hartnäckige und volkstümliche Prozessbeobachterin an Mrs. Touchets Seite erweist, in ihren Urteilen komplett falsch liegt, aber die Macht und Verlockung öffentlicher Irrtümer wunderbar komisch verkörpert. Zadie Smith gibt all ihren Figuren Raum, sich zu entfalten und ihre Zeit zu spiegeln, wie in einem Kaleidoskop mit vielen Facetten: die Vergnügungen und die Langeweile der englischen Countryside, die krassen sozialen Gegensätze, die ideologischen Verirrungen der britischen Klassengesellschaft. Mrs. Touchet zumindest bewahrt ihren hinlänglich klaren Verstand wider alle Anfechtungen und durchquert die Jahrzehnte mit wachsender Einsicht und schwindender Hoffnung.
„Nur Kinder glauben, dass ein Mensch einen anderen wirklich erretten kann. Nur Kinder glauben, dass Hochzeiten der Geschichte ihr Ende bescheren.“
(Lore Kleinert)
Zadie Smith, *1975 in London, englische Schriftstellerin, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, ihr erster Roman erschien 2001, lebt in London
Zadie Smith „Betrug“
aus dem Englischen von Tanja Handels
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2023, 528 Seiten, 26 Euro