Imogen Crimp
Unser wirkliches Leben
Max ist ein gutaussehender Banker und wohnt in einem Apartement mit grandiosem Blick über ganz London. Ein cooler Typ, der Frauen mit Distanz begegnet. Als Max und Anna sich kennenlernen, wirkt er nicht besonders interessiert.
Unbestimmte Absicht
„Ich wurde nicht schlau aus ihm. ... Seine Worte schienen keine bestimmte Absicht zu verfolgen. Es schien ihn nicht zu kümmern, wie ich reagierte. Er warf sie achtlos hin, wie jemand Essensreste in einen Hundenapf schmeißt, um sie loszuwerden ..."
Die beiden sitzen am Tresen einer Hotelbar, in der Anna gerade Jazz gesungen hat, um Geld zu verdienen. Eigentlich hat sie sich dem klassischen Operngesang verschrieben und einen der begehrten Plätze an einem renommierten Konservatorium bekommen. Aber sie lebt und studiert in London ohne jede materielle Unterstützung von zuhause. Zusammen mit einer Freundin wohnt sie in einem schäbigen kleinen Zimmer unterm Dach, muss jeden Monat das Geld zählen, „reicht es, reicht es nicht".
Im Scheinwerferlicht
Max lädt sie in teure Restaurants ein, fragt interessiert nach ihrem Leben, hört aufmerksam zu, wenn sie von ihrem Ehrgeiz erzählt, eine gute Sängerin zu werden, aber auch von den zwiespältigen Gefühlen, den hohen Ansprüchen in diesem Beruf zu genügen. Aus der anfänglich diffusen Anziehung wird eine leidenschaftliche Affäre. Sie genießt seine Aufmerksamkeit, sein Interesse, und als sie zum Vorsingen nach Paris fahren will, bezahlt er Zugfahrt und Hotel. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass er ihr Geld gibt, aber sie schwört sich und ihm, es zurückzuzahlen. Laurie, Annas Freundin mit feministischen Grundsätzen, ist neugierig:
„Ich hätte sagen können, er ist ein warmherziger Mensch, wenn er mich ansieht, ist es, als würde ich im Scheinwerferlicht stehen, und alles, was ich sage, zählt, wird, gehört, ist wichtig, oder ich hätte sagen können, er ist kühl und gelassen, wenn ich mit ihm zusammen bin, fühle ich mich an die richtige Stelle gesetzt, bin ruhig, und ich muss nur dort bleiben, dann ist alles gut. Aber nichts davon würde zutreffen, nicht ganz. ...."
Unvermeidliche Krise
Annas Künstlerclique und Max – das passt irgendwie nicht zusammen. Und auch Anna und Max passen nicht wirklich zueinander, und dennoch verliebt sich Anna in den geheimnisvollen und oft abweisenden Mann. Aus ihren Gefühlen wird emotionale Abhängigkeit, zunehmend auch eine materielle. Er besorgt ihr eine Wohnung, gibt ihr Geld, sie spioniert ihm nach, wittert Geheimnisse, beginnt ihr Gesangsstudium zu vernachlässigen, will ihm alles recht machen, ist hin und hergerissen zwischen Beziehung und Karriere:
„Und dann fühlte sich die Art, wie er mich anschaute, ... unfreundlich an. Sein Blick machte mich tollpatschig ... Es war, als traute er mir nicht zu, mich in der Welt zurecht zu finden, und je weniger er es mir zutraute, umso schwieriger fiel es mir."
Sie rutscht unweigerlich in eine Krise, die sie fast den Studienplatz kostet. Auch die Trennung von Max ist unvermeidlich.
Kindliche Sehnsucht
Imogen Crimp erzählt in ihrem Debüroman nicht nur eine aufregende und durchaus hintergründige Liebesgeschichte, sie blickt auch hinter die Kulissen, beleuchtet die sozialen Unterschiede, die bei Anna mit Scham verbunden sind, denn sie kommt aus einfachem Elternhaus, muss jobben, um zu überleben. Wenn sie bei Max ist, empfindet sie die „Hässlichkeit ihres Lebens" umso stärker. Annas fast kindliche Sehnsucht nach einem Leben als Opernstar prallt ab am nüchtern-pragmatischen Blick des erfolgreichen Bankers. Wie hart die Arbeit ist, eine Stimme erfolgreich auszubilden, und wie bitter der Kampf um gute Rollen, darüber schreibt die Autorin aus eigener Erfahrung, sie hat selbst mal Gesang studiert. Mit psychologischem Gespür und lebendigen Dialogen erzählt sie einfühlsam und spannend von der Schwierigkeit, sich zwischen Anpassung und Emanzipation entscheiden zu müssen.
(Christiane Schwalbe)
Imogen Crimp, *1989, Literaturstudium in London, englische Schriftstellerin, lebt in London
Imogen Crimp „Unser wirkliches Leben"
aus dem Englischen von Margarita Ruppel
Roman, hanserblau, 464 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro, AudioCD 13,89 Euro