Jonathan Lee
Der große Fehler
Was macht den großen Fehler aus? Das Zusammentreffen vieler kleiner Fehler? War es die Ambition, New York groß zu machen, als Zusammenschluss von fünf kleinen Gemeinden zu Greater New York, was man 1893 noch als Fehler bezeichnete?
Gewaltsames Ende
Oder ist es der Mord an dem ambitionierten Mann, der als Vater New Yorks berühmt war und bis heute fast vergessen wurde, an einem Freitag, dem 13. November 1903 vor seinem Wohnhaus in der Park Avenue? Jonathan Lee untersucht das Leben von Andrew Haswell Green durch den Fokus seines gewaltsamen Endes, er verknüpft die Ermittlung dieses Mordes, dessen Täter von Beginn an bekannt war und festgenommen wurde, mit Rückblenden zu vielen Stationen in Greens Leben. Auf einem vergilbten Stück Papier fand der Autor eine Liste mit Namen für die Tore des Central Parks, den Andrew Green erschuf, „Worte aus einer Zeit, als er beschlossen hatte, dass er den Mangel an Luft und Raum in der Stadt leid war…nirgends Platz zum Spazieren, Spielen und Atmen – eine Metropole, wie er gesagt hatte, ohne Herz und Lunge“. Hunters‘ Gate, Artisans‘ Gate, Gate of all Saints – 20 Namen, 20 Kapitel, in denen wir Andrew Green näherkommen und ebenso den Erkundungen des Inspektors McClusky, die zumindest einen Teil einer Wahrheit enthüllten. Und dem Motiv des dunkelhäutigen Cornelius Williams, der ihn vorgeblich wegen einer Frau erschoss. Jonathan Lee schreibt die Grenzen, die jeder Art von Geschichtsschreibung gesetzt sind, elegant in die Geschichte selbst ein:
„Wie sehen wir die Vergangenheit? Wird sie klarer, wenn sie in größere Ferne rückt? Kann sie aus mehreren Blickwinkeln, einer günstigeren Position, mit feineren Instrumenten und zusätzlichen Informationen betrachtet werden? Oder ist ihre Substanz bereits verschwunden und hinterlässt Raum, in dem sich Lügen fortpflanzen und gedeihen können, sich auf Aktenpapieren ausbreiten können…?“
Verzicht auf die Liebe
Andrew wird nach dem Tod seiner Mutter schweigsam, denn auf der armseligen Farm des Vaters gibt es nichts als harte Arbeit, Unbildung, Demütigung, bis er schließlich 1835 nach New York geschickt wird und sich endlich der Welt der Bücher annähern kann. Man begegnet ihm als Jugendlichen, dessen Gefühle für seinen besten Freund in Scham erstickt werden, als jungem Mann, der sich noch einmal verliebt, in Samuel Tilden, dessen Bildung und selbstverständlichem Oberklassen-Charme er zunächst verfällt. Enttäuscht landet er als Ausgestoßener in Trinidad, wo er auf einer Zuckerrohrplantage arbeitet und wiederum Gerüchten ausgesetzt ist, bis er erkennt, da>ss er seine Energie auf größere Ziele richten muss und nach New York zurückkehrt. „Es war an der Zeit, die Stadt zu öffnen, während er sich selbst verschlossen hielt.“ Verzicht auf Begehren, auf die Liebe, wie er sie sich vielleicht wünschte, formte bis zu seinem Ende die Haltung dieses bemerkenswerten Mannes, der nicht nur den Central Park erschuf, sondern auch die New York Public Library, das Metropolitan Museum of Art, das Museum of Natural History und den Zoo in der Bronx, alles noch immer prägend für das Gesicht der Stadt, alles Orte, die allen offen stehen.
„Es war so leicht, im Leben nichts zu erreichen, wenn man sich immer allen Launen hingab – der Laune des Augenblicks, des Tages, der Jahreszeit, des Jahres. Launen hatten Folgen. Sie kosteten. Es war zu spät, sich Dingen zu ergeben, die er nicht kontrollieren konnte.“
Hinweise im Bordell
Zurückhaltung wurde ihm zum Schlüssel für ein ehrbares Leben, und mit Samuel Tilden, der New Yorks Gouverneur wurde und später sogar für Amerikas Präsidentschaft kandidierte, erfolglos allerdings, weil nicht verheiratet, pflegte er später eine produktive Freundschaft, die der Stadt zugutekam,
“eine Freundschaft, in der sie Jahr um Jahr zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Dinge gewollt und ihre Wünsche zeitlich niemals zusammengepasst hatten, auch ihre Ängste nicht – während die des einen wuchsen, ließen die des anderen nach.“
Jonathan Lee baut Spannung in zweifacher Weise auf: auf der Suche nach den Mordmotiven stößt der Polizeiinspektor ausgerechnet in einem Bordell auf Hinweise, die den Täter in die Irre und zum Attentat führten, während sich in Greens Biographie immer wieder die Frage stellt, wie ein Mann mit seinen Gefühlen umgeht, die nicht in die Konventionen seiner Zeit passen und sein Werk zerstören könnten. Literarische Anklänge an Scott Fitzgerald, Sherwood Anderson oder Theodore Dreiser untermalen diese Lebenserkundung eines weitgehend unbekannt gebliebenen Mannes. Lee, der durch eine kleine Steinbank im Central Park auf seinen Namen aufmerksam wurde, hatte das Glück, die unveröffentlichten Tagebücher und Briefe Greens zu studieren und die Muster seiner Gedanken in bestimmten Phasen seines Lebens zu entschlüsseln.
Das Fehlen jeglichen Materials in anderen Jahren füllt der britische Autor mit großem Einfühlungsvermögen und dem „Humor der belebten Straßen, der zufälligen Begegnungen, der zerbrochenen Träume, der seltsamen Fremden, der Irrtümer, Fehltritte und Fehler“ (Interview mit J. Lee von Stephanie Uhlig 2021). Lees poetische Sprache erschafft einen Resonanzraum, in dem sich präzise recherchierte Fakten mit dem, was vielleicht möglich gewesen wäre, leise und dezent vereinen. Als Samuel Tilden 1886 starb, blieben Andrew Haswell Green noch siebzehn weitere produktive Jahre, in denen ihn die Erinnerung umgab – und die Einsamkeit.
„Aber die letzte Erkenntnis des Lebens ist, dass keine Zeit bleibt. Es bleibt keine Zeit. Sie zerrinnt mit jedem Lächeln.“
(Lore Kleinert)
Jonathan Lee, *1981 in Surrey, England, Autor von Romanen und Hörbuchern
Jonathan Lee „Der große Fehler“
aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Roman, Diogenes Verlag 2022 381 Seiten, 24 Euro
eBook 21,99 Euro, AudioCD 14,99 Euro