Claire Thomas
Die Feuer
„Darauf warten, dass der Tag kommt…der glückliche Tag, an dem das Fleisch bei soundsoviel Grad schmilzt.“
Angst vor der Zukunft
„Glückliche Tage“, Samuel Becketts Stück in einer modernen Inszenierung, besuchen drei Frauen, deren Wege sich kreuzen, und in der Pause sprechen sie miteinander wie im absurden Theater: Ivy, Beckettfan, Erbin und umworbene Mäzenin und früher einmal Studentin von Margot, der Literaturprofessorin, und die Schauspielschülerin Summer, die als Platzanweiserin jobbt. Doch davor und danach beschreibt Claire Thomas, welche Gedanken sie an das Stück anknüpfen, wohin sie abdriften, was sie wahrnehmen und nach und nach gewinnen die drei an Kontur und Persönlichkeit, während sie sich in Winnies Worten spiegeln, der Hauptfigur, die halb aus einem vertrockneten Grashügel ragt und mehr und mehr darin versinkt. Draußen wüten Buschfeuer um Melbourne herum in dieser Saison 2019, und im heruntergekühlten Theaterraum ist es vor allem Summer, deren Angst beständig wächst.
Flammendes Herz
Summer macht sich Sorgen um den Klimawandel und kämpft seit langem mit Panikattacken. Sie hat dunklere Haut als ihre Mutter, doch wer ihr Vater ist, weiß die unsichere junge Frau nicht. Ihre Freundin April ist ihren Eltern zur Hilfe geeilt, um sie beim Kampf gegen die Flammen zu unterstützen.
„Summer denkt an die Motive auf Aprils Haut, sieht sie brennen, rauchen, schmelzen, kochen wie Schweinefleisch im Ofen. Scheiße. Nicht April. Nicht April. Mach dich von diesem Gedanken los, Summer. Das flammende Herz in ihrer Brust.“
Die geheimen Ängste der drei Frauen sind sehr unterschiedlich, und dennoch berühren sie einander. Ivy hat ihr erstes Kind vor sechzehn Jahren verloren, plötzlicher Kindstod hieß es, und bis ihre Freundin sie nach Australien zurückholte, war sie jahrelang betrunken. Inzwischen ist sie wieder Mutter geworden und hat viel Geld geerbt, doch im dunklen Theater laufen ihr Angsttränen über das Gesicht, denn die Verletzlichkeit ihrer Seele und die Angst um ihr Kind holen sie immer wieder ein.
„Sie wünscht sich, sie wäre weiterentwickelt und hätte mehr Kontrolle über die dünne Membran zwischen dem Verborgenen und dem Sichtbaren. Undicht zu sein hält sie für eine Fehlentwicklung, denn wenn sie wirklich erwachsen und kompetent wäre, würde sie nicht in der Öffentlichkeit weinen.“
Kampf gegen Schuldgefühle
Die Literaturprofessorin Margot war während ihres Studiums ihr großes Vorbild -„Margot war geistreich und listig und strahlte Autorität aus“. Nachdem sich die Frauen in der Pause wiederbegegnet sind, fragt sich die inzwischen fast siebzigjährige Margot, was ihre klügste Studentin wohl von ihr denken würde, wenn sie wüsste, dass die bewunderte Professorin ihre vielen blauen Flecken den Prügelattacken ihres Mannes verdankt. Von ihrem Sohn erwartet sie kaum Verständnis, denn ihr Mann ist erst mit seiner späten Demenz gewalttätig geworden, und sie weiß noch nicht, wie sie damit umgehen wird - und kämpft mit Schuldgefühlen. Etliche Demütigungen ihres Lebens ziehen während der Theatervorstellung an ihr vorüber, als die Fassade lebenslangen Erfolgs zu bröckeln beginnt, und die eigenen Härten und Versäumnisse schälen sich deutlicher heraus. In der gegenseitigen Wahrnehmung der drei Frauen lässt Claire Thomas auch Hoffnung aufscheinen, denn sie sehen mehr als die jeweils andere preisgibt.
Verlorene Gefühle
Becketts Theaterstück um das langsam versinkende und sterbende Paar Winnie und Willie lässt sie vor allem im zweiten Teil nach der Pausenbegegnung Zugang zu lange verschütteten Gefühlen finden. Claire Thomas‘ erster Roman öffnet einen großen Resonanzraum weiblichen Empfindens, brillant komponiert und mit bewundernswertem sprachlichem Feingefühl ausgemalt. Und draußen brennen die Wälder…
(Lore Kleinert)
Claire Thomas, in Melbourne geboren, australische Literaturwissenschaftlerin und Autorin, lebt in Melbourne
Claire Thomas „Die Feuer“
aus dem Englischen von Eva Bonné
Roman, Hanser Verlag 2022, 256 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro