Lavie Tidhar
Adama
„Esther, wer warst du?, dachte sie. Wir lernen unsere Eltern immer erst kennen, wenn sie nicht mehr bei uns sind. Zwei Menschen mussten sich begegnet sein und zueinander gefunden haben, damit ihre Mutter geboren werden konnte, und so war es auch bei Hanna selbst gewesen, aber ihr Vater war ein geheimnisvoller Fremder, den sie niemals kennenlernen würde.“
Spannungen
Als ihre Mutter Esther in Miami stirbt, findet ihre Tochter Hanna eine Schachtel mit alten Dokumenten und Fotos – und einer Pistole. Über sechs Jahrzehnte hinweg entfaltet Lavie Tithar die Geschichte ihrer Familie: im Zentrum steht Ruth, die als junge Zionistin den Kibbuz Trashim 1934, vor Israels Staatsgründung unter britischer Besatzung, mit aufbaut und ihn zeitlebens als beste Lebensform verteidigt. Ihre Schwester Shoshana, die den Holocaust überlebte, findet dort keinen Frieden. Die strengen Regeln, auch die von den Eltern getrennte Erziehung der Kinder sind nicht für alle gleich erstrebenswert, und viele verlassen die Kibbuzim. Die Spannung zwischen denen, die das Land in vielen blutigen Kriegen verteidigen und denen, die sich nach einem anderen Leben, friedlicheren Leben sehnen, ist ein Motiv, das die vielen einzelnen Episoden kreuz und quer durch die Zeit verbindet.
„Die Tzabarim waren nicht schwach wie die alten europäischen Juden. Sie waren neu und hart und die Herrscher in diesem Land, diesem ‚Adama‘. Sie hatte das Wort im Hebräisch-Unterricht gelernt und hasste es. „Es gibt kein A-d-a-m-a ohne d-a-m“, hatte ihr Lehrer stolz erklärt. ‚Dam‘ war hebräisch und bedeutete Blut. Kein Land ohne Blut. Shosh hatte Blut satt.“
Hoffnung
Das andere Motiv ist die Gewalt, und die Überlebenden der Lager haben sie in all ihren grauenvollen Formen kennengelernt, wie Ruths Schwester. Auch dieses Erbe ist in die DNA des neuen Staates eingegangen, genau wie die Träume der Zionisten und Staatsgründer. Im farbenfrohen Flickenteppich dieses Romans fügt jedes Kapital etwas Neues über Israels Geschichte hinzu, und wir lernen eine Fülle glaubwürdiger Personen kennen, ihre Verluste, ihre Irrtümer, ihren Mut und ihre unzerstörbare Hoffnung. Die Kinder und Enkel von Ruth und Shoshana, beide auf unterschiedliche Weise selbstbewusste und selbstbestimmte Frauen, erfahren, wie sich der zionistische Traum in ein Gewebe von Verrat und Lügen verwandelt, wie der Zweck letztlich die Mittel rechtfertigt. Dennoch wird das Land als Heimat und einzige Zuflucht wieder und wieder mit allen Mitteln verteidigt, da es von seinen Nachbarn wieder und wieder angegriffen wird.
„Wenn sie früher im Lager eins gelernt hatte, dann dass man um jeden Preis überleben musste. Regeln? Gesetze? Das waren höfliche Fiktionen, Märchen, an die sie einst vielleicht mal geglaubt hatte, aber jetzt nicht mehr.“
Überlebenskampf
Zwischen den Kriegen das Leben: vielfältig und bunt wie in kaum einem anderen Land. Lavie Thidar selbst ist in einem Kibbuz im Norden Israels aufgewachsen. Seine Großeltern sind Überlebende der Shoah, die Mutter kam in einem Lager für Displaced Persons in Deutschland zur Welt, - er weiß, wovon er erzählt. In diesem zweiten Band über Israels Geschichte verknüpft er Thrillerelemente mit Familientragödien, politische Konflikte mit vielen persönlichen Schicksalen. Im Zentrum steht der Kibbutz, der sich genauso wie das Land über die Jahrzehnte verändert, seine Seele verliert, wie Ruth feststellen muss, bevor sie hoch betagt stirbt.
„Der Kibbuz ist nicht mehr derselbe. Er ist am Ende. Ach, dabei hat es uns gar nicht so schlimm getroffen wie andere. Der Aktienmarkt und die schlechten Kredite und das alles. Uns geht’s noch gut. Die Bilanzen stimmen. Aber die Seele des Kibbuz gibt’s nicht mehr.“
Präzise erkundet der Autor, wie Mord, Drogen und Korruption von Beginn an mit Israels Geschichte verknüpft sind, untersucht wie schon in seinem ersten Band „Maror“ ihre Wurzeln und konfrontiert uns auf ebenso wahrhaftige wie unterhaltsame Weise mit der harten Realität seines Landes – ihm gelingt ein großartiges Epos über Israels Überlebenskampf und seinen Preis.
(Lore Kleinert)
Lavie Tidhar, *1976 in Israel, mehrfach ausgezeichneter englischsprachiger Autor von Science-Fiction und Fantasy
Lavie Tidhar „Adama"
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Thriller, Suhrkamp Verlag 2025, 425 S. 22,00 Euro
eBook 18,99 Euro
