Ian McEwan
Was wir wissen können
„Gerade weil niemand den Sonettenkranz kannte, war er so schön. Wie das Spiel von Licht und Schatten an Platons Höhlenwand schenkte er der Nachwelt die reine Form, das Ideal aller Poesie.“
Im Jahr 2119
Ein Sonettenkranz als Objekt der Begierde? Klingt nach Romantik! Der Literaturdozent Thomas Metcalfe ist von diesem vor über hundert Jahren entstandenen Werk aus 15 Gedichten, deren letzte Zeilen jeweils die erste des folgenden Poems bilden, besessen: Der berühmteste Dichter seiner Zeit Francis Blundy hat es auf der Geburtstagsparty für seine Frau vorgelesen und ihr das einzige, aufgeschriebene Exemplar geschenkt, das niemals veröffentlicht wurde. Für Thomas ist es der Schlüssel in die Zeit vor über hundert Jahren. Unsere Zeit ist gemeint, das Jahr 2014, und er will das Werk unbedingt aufspüren. In Folge einer nuklearen Katastrophe wurden große Teile der Welt überflutet, und im Jahr 2119, dem Jahr seiner Suche, ist es schwer geworden, Brücken in die Vergangenheit zu bauen, - für den Wissenschaftler ein „Tanz mit Fremden“, wenn er sich akribisch in das Leben der damals an der Party Beteiligten hineinarbeitet und –phantasiert. Durch ihre Emails, ihre digitalen Fußabdrücke in den sozialen Medien lassen sich ihre Leben erkunden und versprengte Teile zusammenfügen, aber wer waren sie wirklich? Und wo ist das verlorene Gedicht?
„Ich hätte dort sein können. Ich bin dort. Ich weiß alles, was sie wissen – und mehr noch, denn ich kenne einige ihrer Geheimnisse und ihre Zukunft, ihren Todestag. Dass sie zugleich abwesend und für mich so lebendig sind, ist schmerzlich. Sie können mich rühren, mich berühren, nur ich komme nicht zu ihnen durch.“
Alles erfahren
Das hält Tom Metcalfe keineswegs von seiner Mission ab: er macht sich sogar auf die beschwerliche Reise von einem verbliebenen kleinen Archipel zum nächsten, um Spuren in den Archiven und den Nachlässen der damals berühmten Dichter zu finden. Zwar ist alles, was jemals digitalisiert und gespeichert wurde, zugänglich, doch stellt sich die Frage, wie verlässlich es tatsächlich ist – der Wissenschaftler kann sich einen giftigen Blick auf die untergegangene Wissensgesellschaft nicht ersparen:
„Durch Fortschritte in Quantencomputing und Mathematik wurde alles geknackt, was einst verschlüsselt war. Wie gern würde ich den Menschen vor hundert Jahren durch ein Loch in der Zeitdecke zurufen: Vertraut nie der Tastatur und dem Bildschirm. Wenn ihr das tut, werden wir alles erfahren.“
Alles zu erfahren erweist sich jedoch auch für Metcalfe als Illusion. Ian McEwan reflektiert in seinem Roman nicht nur den Wissensdurst, der die Menschheit vorantrieb, sondern auch über seine Irrwege und Grenzen. Aus der Perspektive eines Nachfahren, der mit unserer westlichen Zivilisation trotz ihres katastrophischen Niedergangs noch eng verbunden ist, hält der Autor seiner, unserer Zeit einen ironischen Spiegel vor, ohne zu verurteilen oder zu belehren. Unser riesiges Arsenal an Wissen, an menschlicher und künstlicher Intelligenz konnte Krieg und Klimakatastrophe nicht verhindern, und Metcalfes Studenten sind schon längst nicht mehr bereit zu glauben, dass die Menschen vor hundert Jahren ihnen ähnlich waren.
„Diese Vorfahren müssen ignorante, verkommene und destruktive Rüpel gewesen sein. Wie einer der intelligenteren Studenten zu verstehen gab, hätten sie doch sicher mehr machen können, als die Wirtschaft hemmungslos wachsen zu lassen und Kriege zu führen.“
Liebe und Lüge
Der Titel des Romans, „Was wir wissen können“, spielt mit den Möglichkeiten menschlicher Ignoranz und Verdrängung. Die Erinnerungen selbst sind trügerisch, dessen ist sich der Autor, wie schon in einigen seiner Romane, sicher, und im zweiten Teil verlässt er seinen literarischen Stellvertreter und gibt der Frau des Dichters, Vivien, die an ihrem Geburtstag zur Muse stilisiert wurde, das Wort. Ian McEwan erzählt mit stilistischer Eleganz und poetischer Feinfühligkeit von den Verstrickungen der Liebe und der Lüge, des Betrugs und der Leidenschaft, all der Emotionen, die das, was Menschen wissen könnten, verschleiern, verbergen und verändern, und vielleicht verleiten sie gerade deshalb zur nostalgischen Verklärung der Vergangenheit. Das gab es schon immer, die Geister, die wir beschwören, sind nicht leicht zu bannen. Der Autor hat seinen meisterhaften Roman zwar mit Skepsis unterlegt, weiß aber dankenswerterweise und mit britischem Humor um die Unzulänglichkeit menschlichen Seins und Strebens, und sein Personal aus Vergangenheit und Zukunft ist komplex und höchst lebendig und kommt uns Leserinnen und Lesern unheimlich nah.
„In jenen einfallsreichen, genialen, lärmenden Zeiten lebendig gewesen zu sein, als das Meer noch respektvolle Distanz wahrte und man in jede Richtung trocknen Fußes so weit gehen konnte, wie man wollte…Für diese Sehnsucht nach etwas, das man nie gekannt hat und das verloren ist, bräuchte man ein eigenes Wort, ein anderes als Nostalgie, die sich nach dem verzehrt, was man einst hatte.“
(Lore Kleinert)
Ian McEwan *1948 in Aldershot (Hampshire), englischer Schriftsteller mit zahlreichen Auszeichnungen, lebt in London
Ian McEwan „Was wir wissen können“
aus dem Englischen von Bernhard Robben
Roman, Diogenes Verlag, 480 Seiten, 28 Euro
eBook 24,99 Euro
