Louise Kennedy
Übertretung
„Sprengfalle. Brandsatz. Plastiksprengstoff. Nitroglyzerin. Molotowcocktail. Gummigeschoss…Was heutzutage zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes gehört.“
Höchste Gefahr
Im Klassenraum der jungen Lehrerin Cushla Lavery ist Nordirlands Realität so präsent wie überall in der kleinen Garnisonsstadt bei Belfast. Wenn sie abends im Pub ihres Bruders Eamonn ausschenkt, muss sie als Katholikin darauf achten, was sie sagt, und obendrein kümmert sie sich um ihre kapriziöse Mutter, die ihren Kummer um den toten Gatten im Alkohol ertränkt. Im Pub der Familie lernt Cushla den protestantischen Anwalt Michael Agnew kennen, der sie einlädt, ihm und einigen Freunden Gälisch beizubringen. Obwohl er verheiratet und um einiges älter ist, verlieben sich beide ineinander, und das bedeutet in diesen Zeiten höchste Gefahr. Nicht nur, weil eine Liebe wie diese für die verfeindeten Sektierer auf beiden Seiten als unmöglich gilt, sondern Michael verteidigt auch die Rechte junger Männer aus der IRA, und selbst seine liberalen Freunde reagieren darauf mit Unverständnis.
„Wäre die politische Situation nicht so, wie sie ist, hätten die meisten dieser Jungs keinen Ärger“, sagte Michael. „Und du bist ihr Fürsprecher. Der gute alte Michael. Verteidigt, was nicht zu verteidigen ist.“ „Sie finden keine Arbeit. Sie werden ständig schikaniert. Hin und wieder kommt es vor, dass Polizei oder Armee die Sache so vermasseln, dass man gut und gern von einer Rekrutierungskampagne für die IRA sprechen kann“, sagte Michael.“
Leben im Ausnahmezustand
Sein Leben ist riskant, doch Cushla und er erleben und genießen die Nähe, die die Fremdheit zwischen ihnen zwar nie vertreibt, aber doch für beide eine Chance ist, die ausgetretenen Wege im Dickicht eines blutigen Bürgerkriegs zu verlassen. Louise Kennedy findet dafür eine genaue, unsentimentale Sprache, in der sie die Sehnsüchte normaler Menschen in schwierigsten Zeiten konzentriert, und die Übersetzung des Romans wird ihr in jeder Hinsicht gerecht. Nie sentimental, sondern immer nüchtern, unromantisch und sich der ‚Troubles‘ bewußt beschränken sich die Akteure auf das, was im geheimen, verbotenen Raum möglich ist. Doch diese Grenze wird immer wieder übertreten, das eingeschränkte und verletzte Leben im Ausnahmezustand lässt nichts anderes zu. Jede einzelne Szene vibriert vor Spannung, und die Sehnsucht nach anderen, besseren Spielräumen läuft mit wie eine leise, geheime Tonspur, unterlegt mit dem beständigen Lärm von Gewalt und Krieg.
„'Ich bin in der Falls Road zur Schule gegangen. Wenn man die Berge auf der anderen Seite hinaufgeht, kann man sehen, wie die Armeehubschrauber über den Straßen und Wohnungen schweben“, sagte Cushla „wie eine Armee von Außerirdischen.“ Er sagte nichts dazu, und sie fragte sich, ob sie eine Grenze überschritten hatte…Es muß sich wie ein dauernder Angriff anfühlen“, sagte er.“
Brutaler Terror
Louise Kennedy macht, und das zeichnet diesen Roman ebenso aus, diese aussergewöhnliche Liebesgeschichte nicht zum einzigen Erzählstrang, sondern sie verbindet sie mit Cushlas Verhältnis zu ihrer Mutter Gina, ihrer Arbeit und ihren originellen Beobachtungen der Dauergäste und Soldaten im Pub des Bruders. Ihr Versuch, einem Jungen aus ihrer Grundschulklasse, dem 7jährigen Davy zu helfen, dessen Familie wegen des katholischen Vaters von Loyalisten terrorisiert wird, hat in der vorurteilsbeladenen Atmosphäre in den 70er Jahren Nordirlands ungeahnte Konsequenzen und gefährdet nicht nur ihr eigenes Leben. Schmerz und Furcht sind in ihre Geschichte eingeschrieben, und wir können nachempfinden, wie der brutale Terror der Bürgerkriegsparteien die Menschen prägte und veränderte. Mitgefühl und Zuneigung sind für die Autorin das einzige, was bleibt, und Cushlas Name ist, wie sie Michael erzählte, nicht umsonst aus dem gälischen Satz „A chuisle mo chroi“ abgeleitet: mein schlagendes Herz.
(Lore Kleinert)
Louise Kennedy, in der Nähe von Belfast/Rrland aufgewachsen, 30 Jahre lang Köchin, seit 2021 Autorin
Louise Kennedy „Übertretung“
aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
Roman, Steidl Verlag 2023, 304 Seiten, 25 Euro