Jessie Greengrass
Und dann verschwand die Zeit
Sally lebt zusammen mit Caro und dem kleinen Pauly in High House, einem ehemaligen Sommerhaus außerhalb Londons, hoch oben, das katastrophentauglich umgebaut wurde, um ein Überleben zu ermöglichen.
Endzeitszenario
Sie ist gerade aufgestanden und geht nach unten, um Feuer zu machen. Was ihr dabei durch den Kopf geht, klingt ungewöhnlich, einsam, entbehrungsreich:
„Es ist kalt und dunkel und sehr still. An meinen Stiefeln lösen sich die Absätze, jetzt, aber in diesem Winter will ich sie noch auftragen. Pulli und Leggins snd an den Säumen ausgefranst ... Ich schütte ein paar getrocknete Pfefferminzblätter in einen Becher und brühe Tee auf. Ich hätte Kaffee gekocht, früher. Ich denke es und glaube, mich kurz an den Geschmack zu erinnern ..."
Früher gab es auch noch ihren Großvater, der ihr alles über Selbstversorgung erklärt hat, wie man Obst und Gemüse anbaut, Brot backt, Hühner hält, wie wichtig ein Gezeitenbecken ist. Aber er ist längst tot. Wie die Eltern von Caro und ihrem Halbbruder Pauly, die bei einer der vielen Umweltkatastrophen ums Leben kamen. Wochenlanger Regen, gewaltige Stürme und nicht enden wollende Fluten haben alles weggerissen, was zu tief lag. Unten im Dorf erobert sich die Natur zurück, was einst von Menschen gebaut wurde, um ein möglichst gutes Leben zu führen.
Welt in Trümmern
Aber gut ist nichts mehr. Die vier jungen Menschen, kaum erwachsen, sind komplett auf sich allein angewiesen, leben von dem, was die Eltern bis ins Detail geplant und vorbereitet haben, um den Kindern ein möglichst langes Überleben zu garantieren. Die Mutter, Francesca, war Umweltaktivistin, die sich in die Krisenregionen der Welt wagte, obwohl sie wußte, was bevorstand:
„Wir sahen das Unwetter aufziehen, die Kameras filmten den Regen, den stärker werdenden Wind. Wir sahen, wie eine ganz normale Piazza in einer fernen Küstenstadt entzweibarst ... Am nächsten Morgen ... war dort, wo einst die Insel gewesen war, nichts als nackte Erde zu sehen und ein Fleckchen Ozean ..."
Weltuntergang im Fernsehen, Krisenstäbe, Gipfeltreffen, Protestmärsche. Die wichtigsten Kipppunkte sind längst überschritten, die Klimakatastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Das wissen längst nicht nur Wissenschaftler und Aktivisten.
Lebensfeindliche Zukunft
Aus unterschiedlichen Perspektiven und Situationen erzählt Greengrass, wie es wohl sein wird, wenn die Welt langsam zusammenbricht – weil Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, Überflutungen ganze Landstriche auslöschen, Klimaextreme zunehmen, Dürren und Hochwasser die Menschen vertreiben, die zu Millionen flüchten oder evakuiert werden, in Lagern leben, wo Hungersnöte und längst vergessene Krankheiten ausbrechen - eine gespenstische, lebensfeindliche Zukunft.
Greengrass orientiert sich an längst bestätigten Fakten und fantasiert einfach zu Ende, was Menschen lieber verdrängen und in eine weit entfernte Zukunft schieben, irgendwoanders auf der Welt. Dabei erzählt sie nicht aufgeregt, drohend oder gar apokalyptisch, ihr Ton ist eher unterschwellig beunruhigend, dabei emotional und spannend. Ihr Blick bleibt bei den wenigen Personen, die auf Verlässlichkeit, gegenseitiges Vertrauen und Fürsorge angewiesen sind, wenn sie leben wollen – diese zutiefst menschlichen Eigenschaften gehen zumindest im Endzeitszenario von Greengrass' Roman nicht verloren.
Pauly wird im Rückblick sagen:
„Stünden die Dinge anders, würde ich vermutlich die fehlende Erinnerung an meine Mutter als größeren Verlust empfinden – doch so ist ihre Abwesenheit nur ein kleinerer Teil des Ganzen. Ich habe eine komplette Welt vergessen. ... Der Letzte von uns wird hier für immer liegen, auf High House, das unsere Zuflucht ist und unser Grab sein wird."
(Christiane Schwalbe)
Jessie Greengrass, *1982, studierte Philosophie in Cambridge und London, ihre erste Erzählungssammlung wurde bereits mit renommierten britischen Literaturpreisen ausgezeichnet; dieser Roman wurde in Großbritannien von Presse und Publikum gefeiert.
Jessie Greengrass "Und dann verschwand die Zeit"
Aus dem Englischen von Andrea O'Brien
Kiepenheuer und Witsch 2023, 288 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro