Steven Conte
Das Gedächtnis des Winters
„Ein Hirngespinst, ein Fiebertraum, dachte Bauer – war es das, was Jasnaja Poljana für ihn sein sollte? Einschließlich der an der Front verbrachten Zeit war er knapp sechs Wochen hier.“
Wie ein Automat
Sechs Wochen auf Leo Tolstois Gutshof, wo der Schriftsteller seine großen Romane geschrieben hat – eine Pause vom Krieg war das für die deutschen Soldaten, die dort ein Feldlazarett einrichteten, keineswegs. Der Chirurg Paul Bauer operiert Tag und Nacht, stellt das Geschäft kaum infrage, genauso wie die anderen Militärärzte und die vielen Verwundeten.
„Bauer kam sich wie ein langsamer, stockender Automat vor. Er sprach wenig. Sehnte sich nach Schlaf. Nach zu Hause. Er machte sich an seine letzte Operation. Beendete sie. Trat ab. Er hatte sechsunddreißig, fast siebenunddreißig Stunden durchgearbeitet. Winkel, Demchak und Pflieger auch.“
Diese Seite des Krieges - das Zusammenflicken schwer verletzter Menschen, darunter sogar auch mal ein russischer Soldat, und die beständige Gegenwart des Todes - ist selten Thema eines Romans. Wie der australische Autor Steven Conte sie schildert, mit allen blutigen Details, den Fehlern unfähiger Mittäter und dem beständigen Druck, der auf den vermeintlichen Eroberern der Sowjetunion lastet, ist sie zugleich eine Studie über Zynismus, Herrenmenschenwahn und moralische Abgestumpftheit.
Schweigen und wegsehen
So war etwa die Einnahme von Aufputschmitteln in der Wehrmacht schon seit dem Frankreichfeldzug weit verbreitet, und als Bauer sich bei einem Vorgesetzten darüber beschwert, weil er sieht, wie einem anderen Arzt die Hände zittern, wird ihm geraten zu schweigen und wegzusehen:
„Die halbe Wehrmacht nimmt Amphetamine, Hauptmann. Wahrscheinlich sogar das halbe Land. Deshalb gewinnen wir auch den Krieg. Soweit ich weiß, ist selbst der Führer ein Drogensüchtiger“.
Sich literarisch mit den Untaten der deutschen Wehrmacht in Russland zu beschäftigen, ist in diesen Zeiten eines neuerlichen Krieges in Europa durchaus ratsam, doch der eigentliche Reiz des Romans liegt in der Verknüpfung mit der Liebesgeschichte des Witwers Paul Bauer, der auf dem okkupierten Gut in der Nähe der Stadt Tula der Frau begegnet, die als Literaturwissenschaftlerin für Tolstois Anwesen verantwortlich ist. Mit der Russin Katerina Trubetzkaja, wie er um 40 Jahre als, kann er nicht nur über Bücher, sondern auch über ihres und sein Leben sprechen, und so unwahrscheinlich die menschliche Annäherung an die zornige Frau in diesen Monaten vor der Schlacht von Stalingrad erscheint, finden beide doch Gemeinsamkeiten: ihre jugendlichen Blütenträume über den Kommunismus hat der Stalinismus zerstört, während Bauer früher sozialdemokratisch wählte und keine Sympathien für die Nazis hat. Beide hatten schon vor dem Krieg ein Leben mit Liebe und Verlusten, sind belesen und gebildet. Katerinas zwei Romane stießen früh auf Kritik der Machthaber, denn sie nahm die Verhältnisse nicht kritiklos hin:
„Ich hatte bestimmte Dinge beobachtet. Zum Beispiel, dass die bourgeoise Romantik korrupt war, dass neue Wege zur Liebe erst gefunden werden mussten. Dass die Revolution das Leben junger Frauen verkomplizierte, aber nicht transformierte.“
Weise Worte
Tolstois großer Roman „Krieg und Frieden“ bildet ein ebenso wichtiges Element wie der deutsche Feldzug Hitlers für den Hintergrund des Romans, und nicht zufällig dauerte die französische Besetzung Moskaus im Krieg Napoleons genauso lange wie die Belagerung Tulas auf dem Weg nach Moskau; genau sechs Wochen dauerte es, bis sich die schlecht ausgerüsteten deutschen Truppen in diesem eiskalten Winter 1941 wieder zurückziehen und auch Tolstois Gut verlassen. Wer Tolstois Romane kennt, hat Vergnügen an diesen Bezügen des Autors, die ebenso zum Lesen Tolstois anregen. Briefe, die das überlebende Paar einander sehr viel später, mehr als zwanzig Jahre nach Kriegsende schreibt und die der Autor zwischen die Passagen auf dem Gut montiert, machen auf eindringliche Weise deutlich, wie sehr diese sechs Wochen beider Leben beeinflusst haben.
„Versuchst du, mich zu umwerben, Paul Bauer? Falls ja, stehen Deine Chancen schlecht, fürchte ich – nicht nur wegen der Geopolitik, sondern auch, weil ich zu einer streitsüchtigen alten Kuh geworden bin…Und überhaupt, hast du in deinem ersten Brief nicht darauf hingewiesen, dass eine unerfüllte Liebe kostbarer ist als eine, die sich mit der Zeit verbraucht? Weise Worte.“
Conte ist sich bewusst, dass man nicht zu dem zurückkehren kann, was man erlebt hat, doch es gelingt ihm, auch den sozialen, intellektuellen und emotionalen Stress des Kalten Krieges nach dem Ende des Gemetzels ins Bewusstsein zu rufen, mit leichter Hand und großer sprachlicher Finesse. Mit Mitgefühl für sein ungewöhnliches Paar und Respekt vor dem, was Literatur in dunkelsten Zeiten bedeuten kann.
(Lore Kleinert)
Steven Conte, *1966 in Sydney, Studium Kreatives Schreiben, mehrfach ausgezeichneter australischer Schriftsteller
Steven Conte „Das Gedächtnis des Winters“
aus dem Englischen von Joannis Stefanidis
Roman, Verlag HarperCollins 2023, 448 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro