Ian McEwan
Lektionen
„Wie leicht es doch war, sich durch ein nicht selbst gewähltes Leben treiben zu lassen und einzig auf Ereignisse zu reagieren. Nie hatte er eine wichtige Entscheidung getroffen. Außer der, von der Schule abzugehen. Nein, auch das war nur eine Reaktion gewesen.“
Niemals Opfer
Eine Reaktion auf eine viel zu frühe sexuelle Verführung, die in Roland Baines Leben subkutan nachwirken und einige Weichen verstellen wird. Der begabte Junge, von seinen Eltern nach einer Kindheit in Libyen in einem liberalen Internat untergebracht, wird kein gefeierter Konzertpianist, sondern schlägt sich als Jazzmusiker und Tennislehrer durch, der gelegentlich Texte für Zeitungen und Grußkarten verfasst. Dennoch erzählt McEwans Roman keineswegs die Geschichte eines Gescheiterten, sondern entfaltet ein ganzes, langes Leben mit all seinen Stationen, Krisen und Reflektionen, in Rückblenden und Wendungen, spiralförmig und kunstvoll und keine Sekunde lang langweilig. Die Ereignisse, die das Leben der Menschen seit dem Ende des 2. Weltkriegs beeinflussten - Kubakrise, Aufbruch der 68er, Tschernobyl, Fall der Berliner Mauer, am Ende die Pandemie, - verwebt der Autor in die Textur des Lebens seines Protagonisten mit beiläufiger Eleganz, ohne ihn zum Demonstrationsobjekt oder zum Opfer zu machen. Vielmehr entsteht allmählich das Bild eines Menschen, der reagiert und ebenso Entscheidungen trifft, ohne sich ihrer Tragweite immer bewußt zu sein.
„Als Erwachsener erzählte er Freunden manchmal, er sei nach der Ankunft im Internat in eine leichte Depression verfallen, die bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr anhielt. Er habe nachts nicht vor Heimweh geweint, sei vielmehr verstummt. Aber stimmte das auch? Ebenso gut hätte er sagen können, er habe sich nie so frei und zufrieden gefühlt.“
Bittere Momente
Kein Jedermann, sondern eine Art Doppelgänger des Autors selbst, Spiegelbild eines Anderen, der nicht das Glück hatte, Erfolg und Erfüllung kennenzulernen und seine Lektion auf ganz eigene Weise lernen musste. Mal bewußter, etwa wenn er seinen Sohn allein und mit schöner Gelassenheit großzieht, und mal scheiternd, was seine Liebesbeziehungen oder sein musikalisches Talent angeht. In seinen bittereren Momenten klingt das so:
„Ich bin vorzeitig von der Schule abgegangen, habe alle möglichen Jobs gemacht und mich treiben lassen. Ich bin ohne Wurzeln. In meiner Familie gab es keine Überzeugungen, keine Prinzipien, keine Ideen, an die man sich hielt. Weil mein Vater nämlich keine hatte. Der Drill der Armee und stets dieselben Befehle, Vorschriften statt Moral. Das begreife ich jetzt.“
Auch der Missbrauch durch seine Klavierlehrerin, die ihn als Vierzehnjährigen verführte und zwei Jahre lang zur sexuellen Verfügung hielt, bleibt ambivalent, denn Ronald erlebt ihn nicht als verwerflich. “Auch Jahre später nicht. Er hatte nichts, wonach er sie beurteilen konnte, keine Werteskala. Keine Maßstäbe.“ Erst viel später, nach etlichen gescheiterten Beziehungen und der Erkenntnis, dass seine Prägung sich kaum als geeignet für tiefere Bindungen erwies, gewährt ihm der Autor noch einmal eine Begegnung mit Miriam Cornell, der Frau, die er verdrängte, die ihm aber „das Gehirn neu verdrahtet hat“, wie seine erste Ehefrau es nannte.
„Alles existierte zugleich, jeder nur erdenkliche Ausgang für sie beide. Die vielen nicht eingeschlagenen Wege, quicklebendig und wohlauf. Irgendwo, jenseits eines Risses im Gewebe der Welt, hockte er immer noch im Schlafanzug, mittlerweile in den Fünfzigern, und führte ein schlichtes Leben.“
Genauer Blick
Doch die Spuren dieser Amour Fou verführen weder zu Vergeltung noch Wiedergutmachung, denn Rolands Leben hat sie längst geschluckt und überschrieben. Auch dass seine Ehefrau Alissa Eberhardt ihn und den Sohn, noch ein Baby, verließ und als Schriftstellerin größte Erfolge feierte, verfolgt der Autor bis zum Ende, in wiederkehrenden Schleifen und immer neuen Perspektiven mit großer Aufmerksamkeit für alle noch so verborgenen Blessuren, die eine Kränkung dieses Ausmaßes hinterlässt. Doch schon ihr erster Roman, „Die Reise“, beeindruckt den verlassenen Mann, dauerhaft von jedem Kontakt mit ihr ausgeschlossen, und verändert seine Wahrnehmung dieser vermeintlichen Katastrophe.
„Er spürte es Zeile für Zeile, alles, was er gedacht und angenommen hatte, geriet ins Wanken. Die Sprache war schön, klar, raffiniert, von der ersten Zeile an verriet der Ton Autorität und Intelligenz. Der Blick war genau, unerbittlich, aber auch mitfühlend.“
Mitfühlend und genau ist auch Ian McEwans Blick, auf seinen sehr besonderen Alltagshelden, auf die Menschen, die ihm nahekommen und die, die ihm fremd bleiben und doch zum gesamten kunstvollen Gewebe seines Lebens dazugehören. Der Autor hat vieles aus seinem eigenen Leben darin eingearbeitet: die Jahre im Internat, die Geschichte seines Soldatenvaters im Dienste ihrer Majestät, die der Mutter, die einen Säugling zur Adoption freigab, dieses verlorenen Bruders, den er schließlich kennen und schätzen lernte und vieles mehr.
Jahre später
Dennoch lesen wir kein Memoir, sondern sein Roman gewinnt aus dem „grenzenlosen Reich der Zeit“ den Verlauf eines einzigen und einzigartigen Lebens, zwischen Zufällen und Zwangsläufigkeiten, Liebe und Tod aufgespannt. Was Erinnerung bedeutet, reflektiert Roland Baines, während er sich fragt, was seinem sieben Monate alten Kind durch den Kopf gehen könnte. Ein schönes Beispiel für McEwans Sprache, hier in Bernhard Robbens kongenialer Übersetzung:
„Eine schattige Leere, ein gleichförmiger Winterhimmel, über den Sinneseindrücke – Geräusche, Gesehenes, Berührtes – in hohen Schwüngen und Bögen explodierten, ein Feuerwerk in Primärfarben, sofort wieder vergessen, sofort durch Neues ersetzt und wieder vergessen. Oder ein tiefer Teich, in den alles fiel und verschwand, aber erhalten blieb, unwiederbringlich da, dunkle Umrisse in tiefem Wasser, deren Schwerkraft selbst achtzig Jahre später noch wirkte, auf dem Totenbett, in späten Geständnissen, in letzten Rufen nach verlorenen Lieben.“
(Lore Kleinert)
Ian McEwan *1948 in Aldershot (Hampshire), englischer Schriftsteller mit zahlreichen Auszeichnungen, lebt in London
Ian McEwan „Lektionen“
aus dem Englischen von Bernhard Robben
Roman, Diogenes Verlag 2022, 720 Seiten, 32 Euro
eBook 27,99 Euro, Audio-CD 22,39 Euro
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