Samantha Harvey
Umlaufbahnen
Sechs Astronauten schweben durch den Weltraum – vier Männer aus Amerika, Italien und Russland, zwei Frauen aus Japan und England. Sie leben für neun Monate auf der internationalen Raumstation ISS zusammen, als eine „fliegende Familie" mit minimaler Privatsphäre, präzise getaktetem Alltag und faszinierenden Ausblicken auf die Erde.
Nirgendwo ankommen
Sie haben sich der Wissenschaft verschrieben, sind angesichts der umfangreichen Messungen von Puls, Blutdruck, Schlafmuster, Gehirnscans, Ausscheidungen und diverser Experimente „Datenmaterial. Vor allem das, Daten. Ein Mittel, kein Zweck."
Samantha Harvey beschreibt mit einer Genauigkeit das Leben im All, dass man sich, schwerelos Purzelbäume schlagend wie die anderen, mittendrin fühlt. Sie alle müssen täglich hart trainieren und gegen die Schwerelosigkeit anstrampeln, damit der Muskelabbau gebremst wird. Aus Urin wird Trinkwasser, sie dürfen nicht weinen, weil Tränen hier nicht auf den Boden fallen, sondern durch den Raum schweben, der vor Feuchtigkeit geschützt werden muss. Ständig vibrieren Luftfilter und Ventilatoren, nie ist es still, immer stehen sie unter Beobachtung. Einmal um die Erde in 90 Minuten, sechzehn Mal am Tag, das sind 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergänge.
Sie schlafen, auch wenn es hell ist, hängen in Schlafsäcken, in denen es kein „richtig herum" gibt, drehen sich in gepolsterten Gängen ohne oben und unten - das Gefühl für den eigenen Körper, für Zeit und Raum löst sich auf.
„Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam. Außergewöhnlich und großartig. Nicht eine einzige Sache ist angenehm .... Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen."
Wirbelnde Wolkenmassen
Harvey läßt uns in die Köpfe der Crew blicken, ihre geheimen Gedanken lesen, ihre Ängste und Sehnsüchte fühlen, sie beim eher faden Essen beobachten, das in Tütchen erhitzt wird und das sie „schwebend wie Seepferdchen" verspeisen. Sie versorgen Versuchsmäuse mit muskelaufbauenden Spritzen, kultivieren menschliche Herzzellen, beobachten Kohl und Schottenkresse beim Wachsen ohne Schwerkraft und Licht, können Algenblüte und Gletscherschmelze auf der Erde beobachten, einen beginnenden Taifun fotografieren, wie er sich zunehmend aus wirbelnden Wolkenmassen auftürmt – sie sehen von oben zu, wissend, dass der Klimawandel diese Stürme immer verheerender machen wird - „Ohne die Erde sind wir alle erledigt." Bei Weltraumspaziergängen verspüren sie ein buchstäblich überirdisches Gefühl angesichts der Tatsache, dass 400 Kilometer unter ihnen die Erdkugel schwebt. Es sind spannende Einblicke in eine Gedankenwelt, die beim Blick auf „Mutter Erde" existentiell wird:
Bald ergreift sie alle ein Verlangen. Das Verlangen, nein, das inbrünstige Bedürfnis, diese riesige und zugleich winzige Erde zu beschützen ... Ein grenzenloser Ort, ein schwebendes Juwel, schockierend hell. Kann die Menschheit nicht in Frieden miteinander leben. Im Einklang mit der Erde? ... Können wir nicht aufhören, die eine Sache, von der unser aller Leben abhängt, zu tyrannisieren und zu zerstören, zu plündern und zu vergeuden?"
Nur ein Fingerschnipp
„Mutter Erde" ist die Hauptperson in diesem Roman, in dem es keine Handlung gibt, und doch so viel passiert: Denn von oben betrachtet, ist die Erde ein überwältigend schöner Planet, dessen Vollkommenheit und Verletzlichkeit die Autorin in wunderbare malerische und poetische Bilder kleidet, den kosmischen Kalender des Universums vom Urknall bis zum Menschen im pointierten und humorvollen Zeitraffer zusammenfasst und konstatiert:
„Wir existieren in einer flüchtigen Blüte des Lebens und Wissens, unser Dasein ein hektischer Fingerschnipp, und dann war's das."
„Umlaufbahnen”, gerade mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet, ist ein berührender und faszinierender Roman - eine Liebeserklärung an unsere Erde.
(Christiane Schwalbe)
Samantha Harvey, *1975, britische Autorin mehrerer Romane, lebt in Bath, im Südwesten Englands
Samantha Harvey "Umlaufbahnen"
Roman, dtv 2024, 224 Seiten. 22 Euro
eBook 18,99 Euro