Anne Enright
Vogelkind
„Wir gehen nicht durch die gleiche Straße wie der Mensch an unserer Seite. Wir können nicht mehr tun als ihm zu sagen, was wir sehen. Wir können auf Dinge zeigen und versuchen, sie zu benennen. Wenn wir es geschickt anstellen, erlebt unsere Begleitung die Welt auf eine neue Weise, und dann kommt es zu einer echten Begegnung.“
Zug um Zug
Das aber ist selten und ohne tiefere Kenntnis der eigenen Gefühle und der des jeweils anderen nicht leicht zu haben, und so entwickelt Anne Enright die komplizierten Annäherungen der McDaragh-Frauen Zug um Zug, in Rückblicken auf ihr Leben oder der Reflektion dessen, was sie gerade erleben. Nell, Carmels Tochter, ist Anfang zwanzig, schreibt auf einer Homepage über Reisen, die sie aus dem Internet zusammenklaubt und löst sich nur mühsam aus einer missbräuchlichen Beziehung mit einem rücksichtslosen Mann. Enright lässt uns sehr direkt an ihrer Perspektive teilhaben, während sie die Passagen zur Geschichte ihrer Mutter Carmel aus größerer Distanz erzählt, in sich abwechselnden Narrativen. Beider Leben ist geprägt vom Verlust eines Mannes, der als berühmter Dichter einen langen Schatten auf sie warf: Als seine Frau krank wurde, verließ Phil McDaragh seine Tochter Carmel und ihre Schwester, um in den USA als irisches Genie ein neues Leben zu beginnen, und hinterließ ihnen Schulden und Verse.
Lügengespinste
Seine Poesie umrahmt die Passagen, in denen Enright erzählt, welche Folgen sein Verschwinden für Tochter und Enkelin hatte, in eigenwilliger Weise: Kunstvolle Gedichte über Vögel und Naturschönheit bilden einen krassen Kontrast zu Einsamkeit und Bedürftigkeit und stehen zugleich für Sehnsucht - verführerische Lügengespinste eines Mannes, der seine Familie verließ. Carmel, in den 7oer Jahren Studentin und später Lehrerin an einer Sprachenschule, vermied jegliche längere Beziehung zu Männern und zog ihre Tochter Nell allein groß.
„Das Baby barg ein ganzes, schwarzes Universum in seinen Pupillen. Es war durch eine Lücke gepresst worden, die das Leben selbst in Carmels Körper gerissen hatte. Sie sahen einander an, und um sie herum war alle Zeit. Das Baby wusste, wie grenzenlos die Einsamkeit der Mutter gewesen war.“
Nells Verstrickungen in problematische Beziehungen ist ebenso ein Reflex auf ein schmerzendes Familienschicksal. Für sie sind Phils Gedichte tröstlich gewesen, denn andere Mädchen hatten Väter und Onkel, sie nur „den guten alten Phil, dessen Worte alles schöner machten“. Der intensiven Liebe ihrer einsamen Mutter muss sie entkommen, und erst am Ende des Romans gelingt es beiden, zu dem, was immer schön und tragfähig war, zurückzufinden.
„Manchmal wurde Carmel sogar nach den schlimmsten schlaflosen Nächten von Nells seliger Nelligkeit überrascht. Obwohl sie unzählige Versionen durchlief, blieb sie vollkommen sie selbst. Ihr schräger Humor und ihr schludriger Feuereifer waren immer schon da gewesen, egal ob mit zwei Monaten, fünf Monaten oder einem Jahr…Und selbstverständlich hatte Nell nie, niemals getan, worum sie gebeten wurde.“
Liebe als Falle
In einem Abschnitt des Romans tritt Phil jedoch selbst in Erscheinung, und seine Kindheitserinnerung spiegelt ein genaueres Bild des Mannes wieder, der Abstand brauchte, um Gedichte schreiben zu können. Ebenso wie ein Brief, in dem seine zweite, amerikanische Frau seiner Enkelin Nell die Faszination ihres Großvaters auf die vielen Frauen in seinem Leben erklärt. Der dominierende Mann im Leben der beiden Frauen war zugleich derjenige, der sie sich so unterschiedlich hat entwickeln lassen. Verluste und beschädigte Beziehungen sind zwar Hindernisse auf dem Weg, liebesfähig zu werden, doch auf den Wegen, die die Autorin für Nell und Carmel einschlägt, öffnen sich neue Echoräume. Es gelingt ihr, alle drei Stimmen zu einer Erkundung in der Zeit zusammenzuführen, ohne dass sie sich gegenseitig den Raum streitig machen. Kunst als Illusion, Liebe als Falle, Familie als Fessel – die großen Themen der irischen Schriftstellerin und Booker-Preisträgerin variiert sie in ihrem neuen Roman neu und überraschend, verstörend und zugleich versöhnlich. Auf einer kleinen Insel nahe Bali sieht Nell, nun endlich auf der Reise und nicht mehr nur online, ein altes Interview mit ihrem Großvater, und er erscheint ihr zum ersten Mal auch als Mensch vertraut:
„Ich sehe alle McDaraghs in ihm, bunt durcheinandergewürfelt, und aus seinem Mund klingen wir zuckersüß und herzlich…Unsere Verbindung besteht aus mehr als ein paar DNA-Strängen, sie ist ein in die Vergangenheit hinabgelassenes Seil, ein dickes, verdrehtes, mit Blut gefülltes Tau.“
(Lore Kleinert)
Anne Enright *1962 in Dublin, vielfach ausgezeichnete Autorin, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellern der Gegenwart, lebt im County Wicklow/Irland
Anne Enright „Vogelkind“
aus dem Englischen von Eva Bonné
Roman, Penguin Verlag 2025, 304 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro
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