Anne Enright
Rosaleens Fest
Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich, das wusste Leo Tolstoi, und Booker-Preisträgerin Anne Enright hat in ihren Romanen etliche Familienhöllen schonungslos und doch mit Humor ausgeleuchtet.
Ein Leben
In ihrem neuen Roman begegnen wir den Madigans zunächst 1980, als die Mutter sich in ihrer Depression vergräbt, und Dan, der Älteste, verkündet, Priester werden zu wollen. Hanna, die Jüngste, ist zwölf, verzweifelt auf die Liebe ihrer Mutter aus, und als sich die vier Kinder nach 25 Jahren erstmals wieder zusammen im irischen Elternhaus einfinden, hat sich daran nicht allzu viel verändert. Hanna "fragte sich, was sie gewollt hatte, bevor sie Alkohol wollte. Ein Leben. Sie hatte ein Leben gewollt", und sie, inzwischen Mutter eines Babies und erfolglose Schauspielerin, findet keinen Ort für die "Verletztheit, die in ihr schwappt."
Suche nach Liebe
Bis es zu diesem weihnachtlichen Treffen mit seiner ganz eigenen Dramatik kommt, blendet die Autorin in die Leben der Madigan-Kinder hinein, schlaglichtartig und pointiert. Dan wurde nicht Priester, sondern irrlichtert in der von Aids heimgesuchten Schwulen-Community New Yorks, lügnerisch und gefühllos und verloren, "sobald sich ihm die Möglichkeit bot, war er fort", davon war schon seine Mutter überzeugt. Anne Enright beschreibt die Szene dieser Jahre des großen Sterbens aus der Perspektive eines mitfühlenden Wir:
"Als wir erkrankten, wollten wir nicht geliebt werden, denn das wäre unerträglich gewesen, und Liebe war alles, wonach wir in unseren letzten Tagen suchten." Ausgerechnet Dan überlebt und findet in Ludo einen Mann, den er liebt.
Die Welt retten
An der Weihnachtsfeier seiner Mutter nimmt er teil, weil
"Ludo recht habe, es sei an der Zeit, seine Vergangenheit in Ordnung zu bringen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Verdammt noch mal an der Zeit, ein menschliches Wesen zu werden.“
Sein Bruder Emmet, der die Unwirklichkeit seiner Mutter nicht ertrug, versucht als Entwicklungshelfer die Welt zu retten und trauert Alice, der einzigen Frau nach, die er hätte lieben können, wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte. Sein Leben zerbrach, doch "seine Mutter hatte eine ganze Menge zu verantworten, aber nicht das" – das zumindest wird ihm klar, und zugleich bleibt er gefangen in seinem "ruhelosen Ideal".
Constance, die füllige, reizbare Schwester mit den vier Kindern und einem freundlichen Mann, fürchtet sich vor Krebs und ließ sich von ihrer Mutter Rosaleen nach dem Tod des Vaters auf Trab halten. In der Begegnung mit ihren Geschwistern 2005 erkennt sie, wie viel sie von sich selbst verloren hat:
"Ihr Gesicht war ein Schatten, der über die Vorderseite ihres Kopfes huschte – wie beim Spiel des Lichts an einem Berghang … Und plötzlich war Constance ihrer selbst vollkommen überdrüssig."
Grandioses Finale
Anne Enrights große Kunst ist es, jede dieser Lebensgeschichten in ihrer eigenen unlogischen Logik zu zeigen und die Lebenslügen ernst zu nehmen, ohne dass sie einen direkten Bezug zu Rosaleens Verhalten herstellen müsste – sie, die Mutter, ist für ihre Kinder
"eine Frau, die nichts tat und alles erwartete. Jahr für Jahr hatte sie in diesem Haus gesessen und immer nur alles erwartet."
Ihr deshalb die Schuld zu geben, wäre viel zu einfach, und die Autorin lotet elegant die Spielräume aus, die es gegeben hätte, vielleicht immer noch gibt, wenn man denn in der Lage wäre, sie zu nutzen. Rosaleen, deren Mann sie liebte und aufhörte, sie zu mögen, weiß nicht, warum sie nicht nett zu ihren Kindern sein kann und was ihre Liebe einfrieren ließ.
Anne Enright verwirbelt ihre lichten Momente mit denen ihrer Kinder zu einem grandiosen Finale, dessen Dramatik sie jedoch wieder mit leichter Hand und scharfem Blick auflöst. Gerade die sparsamen Hinweise auf die vergangene Zeit ermöglichen es der Phantasie der Leser, die Geschichte dieser Familie selbst zu konstruieren, "ihrer Kleinherzigkeit … und den kleinen Leben, durch die sie sich quälten", näherzukommen – und ein großes Lesevergnügen zu erleben.
(Lore Kleinert)
Anne Enright *1962 Dublin, zählt zu den bedeutendsten englischsprachigen Schriftstellern der Gegenwart, lebt im County Wicklow/Irland
Anne Enright "Rosaleens Fest"
"The green road" übersetzt von Hans-Christian Oeser
Roman, DVA 2015, 384 Seiten, 19,99 Euro
eBook 15,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Anne Enright:
Die Schauspielerin