Martin Amis
Interessengebiet
Dieser Roman über Auschwitz ist eine Zumutung – für die einen im provokanten und damit herausfordernden Sinne des Wortes, für die anderen im negativen, weil schamlosen Sinn. Auch die Kritiken stehen sich frontal gegenüber. Die einen sagen: Geht gar nicht, die anderen loben "Interessengebiet" als großartige Literatur.
Das Grauen des Lagers
Irgendwo dazwischen müssen sich die Leser einpendeln, zunächst aber die Lektüre überstehen, die in der Regel nur häppchenweise möglich ist. Es geht – vordergründig - um eine Liebesgeschichte im KZ oder "Kat Zet", wie es im Roman heißt. Der SS-Offizier Golo Thomsen, der die Buna-Werke mit Zwangsarbeitern versorgt, verliebt sich in die Frau des Lagerkommandanten, Hannah Doll, wobei diese Liebe unerfüllt, also nur Schwärmerei bleibt.
"Hannah Doll entsprach dem Ideal junger Weiblichkeit – stumpf, bäuerlich, geschaffen für Fortpflanzung und harte Arbeit. Dank meiner physischen Erscheinung hatte ich umfassende geschlechtliche Erfahrung mit diesem Typus."
Das Ehepaar Doll lebt mit seinen zwei Kindern sozusagen mittendrin, erlebt, fühlt, riecht und sieht das Grauen, das sich tagtäglich im Lager abspielt, hautnah.
Zeugnis ablegen
Mit schmerzhafter Genauigkeit führt Amis eine Art von Alltagsleben im KZ vor, beschrieben aus der Perspektive des SS-Offiziers, der Neffe des Reichsleiters Martin Bormann ist; aus der Sicht des Lagerkommandanten Doll, ein von Obsessionen gesteuerter Vorzeige-Nazi, sexbesessen, ständig besoffen und tablettenabhängig, von der Richtigkeit seiner abscheulichen Handlungen überzeugt; schließlich aus dem Blickwinkel des Juden Szmuel, dem Leiter des Sonderkommandos, genannt "Sonders", das für die Arbeiten vor und nach den Vergasungen zuständig ist:
" … wir sind die traurigsten Männer im Lager. Ja, wir sind die traurigsten Männer der Weltgeschichte. … Wir sind nicht nur die traurigsten Männer, die jemals gelebt haben, sondern auch die widerwärtigsten."
Aber Szmuel, in dem jedes Gefühl erloschen ist, will Zeugnis ablegen, aufschreiben, was er erlebt hat, und vergraben, damit die Nachwelt eines Tages von diesem Irrsinn erfährt.
Blanker Zynismus
Der Horror des industriellen Massenmords wird platziert zwischen Brutalität, Gewalt, Disziplin, Größenwahn und Lächerlichkeit, zwischen Zechgelagen, sexuellen Nötigungen und anderen Widerwärtigkeiten. Mal lässt Amis seinen Roman ins Satirische kippen, dann wieder in blanken Zynismus:
"Der Chef hat sich aus einer Wiener Absteige zum König von Europa emporgearbeitet. Da ist es einfältig, da ist es leichtfertig, zu erwarten, er sei ein Mann wie jeder andere …"
Wichtig und verstörend
Dieser Roman pendelt zwischen der Banalität des Bösen (Hannah Arendt), moralischer Verurteilung, bitterer Anklage, Abscheu und Faszination. Er ist routiniert und souverän geschrieben, die Dialoge allerdings jagen einem immer neue Schauer über den Rücken. Aber die Frage, ob man das Grauen von Auschwitz in dieser unterhaltenden Art beschreiben darf, muss sich jeder Leser selbst beantworten. Amis – so erfährt man im Nachwort – hat einen besonderen Blick auf die Welt:
"Es ist ein durchdringend böser Blick, den er mit Humor und Geist tarnt, und den er schonungslos auf die Abgründe der menschlichen Psyche richtet …"
Der Hanser-Verlag hat eine Veröffentlichung abgelehnt. Kein & Aber war so mutig, dieses erbarmungslose und verstörende Buch auf den deutschen Markt zu bringen.
(Christiane Schwalbe)
Martin Amis *1949 in Swansea/Wales, ist einer der bedeutendsten englischen Gegenwartsautoren, er lebt in New York
Martin Amis "Interessengebiet"
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Roman, Kein & Aber 2015, 416 Seiten, 25,00 Euro
eBook 19,99 Euro