Arundhati Roy
Das Ministerium des äussersten Glücks
Ein Buch, prall gefüllt mit Geschichten, die von Indien und seinen Menschen erzählen - von den Reichen und Schönen bis zu bitterarmen Obdachlosen, die ohne Dach über dem Kopf am Straßenrand schlafen, weil der Dampf der Auspuffgase ihnen die Moskitos vom Leibe hält und sie stattdessen von Lastwagen überrollt werden.
Gottes Halsschlagader
Roy erzählt von fundamentalistischen Hindus, die Moslems töten und von fanatischen Moslems, die Hindus massakrieren; vom Leid der Unabhängigkeit, das es ohne den neuen Staat Pakistan nicht gegeben hätte:
"Gottes Halsschlagader platzte auf der neuen Grenze zwischen Indien und Pakistan, und eine Million Menschen starben an Hass. Nachbarn gingen aufeinander los, als hätten sie sich nicht gekannt, sich nie gegenseitig zu Hochzeiten eingeladen und nie die Lieder der anderen gesungen."
Der Hass ist nicht verschwunden, bildet sich bis heute alltäglich grausam in Kaschmir ab, der von Indien regierten Provinz mit einer muslimischen Mehrheit, die immer wieder von Kämpfen geschüttelt wird und nicht zur Ruhe kommt. Seit 1947 wird hier geschossen und gemordet, versuchen indische und pakistanische Sicherheitskräfte eine überaus aktive Untergrundbewegung in den Griff zu bekommen, die für die Unabhängigkeit des Landes kämpft. Dieser Konflikt ist ein Hauptthema von Arundhati Roys Buch - seine Helden und Märtyrer, die unschuldigen Opfer, die unvorstellbare Grausamkeit und jegliche Missachtung von Frauen.
Langersehnter Sohn
Dieses Buch schüttelt den Leser immer wieder durch, verwirrt bis zur Unverständlichkeit, fasziniert dann wieder durch unerwartet poetische Bilder, mit denen Roy eben auch ihr Land erklärt - ein Land, bald das bevölkerungsreichste der Welt, das so zerrissen ist wie dieser Roman, weil er von einer Geschichte in die nächste springt, wir den roten Faden verlieren, der vielleicht gar nicht da sein will. Halt finden wir bei einer zentralen Figur: Anjum, eine Hijra, ist der langsersehnte Sohn einer indischen Familie, bis die Mutter entdeckt, das er beides ist, männlich und weiblich. Alle Bemühungen, ihm die Frau im Körper auszutreiben, scheitern.
"Weißt Du, warum Gott Hijras erschaffen hat? … Es war ein Experiment. Er beschloss, etwas zu erschaffen, ein Lebewesen, das erwiesenermaßen unfähig ist, glücklich zu sein. Also erschuf er uns."
Indien! Indien!
Nach einer ebenso bemerkenswerten wie kurzen Karriere als Schauspielerin, zieht Anjum auf einen muslimischen Friedhof und baut dort ganz langsam eine Art Gegengesellschaft auf, zu der eine ganze Reihe kurioser, verlassener, verlorener, gescheiterter Figuren gehören, die hier Ruhe, Heimat und eine Familie finden – im Jannat Gästehaus, von der Hektik draußen abgeschirmt. Draußen – das ist der lärmende Wohlstand, die Großstadt, der Fortschritt, der die Armen im Stich lässt und in die Slums treibt:
"Indien! Indien! Dert Ruf war zu hören – in Fernsehshows, Musikvideos, ausländischen Zeitungen und Zeitschriften, bei Wirtschaftskonferenzen und Waffenausstellungen, bei ökonomischen Konklaven, Umweltgipfeln, bei Buchmessen und Schönheitswettbewerben. Indien! Indien! Indien!"
Wirtschaftlichen Reichtum gibt es nur für die Oberschicht, Globalisierung zerstört Traditionen, Fortschritt fegt Dörfer leer und macht sie dem Erdboden gleich:
"Wohin sollen wir gehen" fragten die überschüssigen Menschen, 'ihr könnt uns umbringen, aber wir gehen nicht weg', sagten sie. … Es waren zu viele, um sie in aller Öffentlichkeit zu töten. … Stattdessen wurden ihr Zuhause …, die Schulen ihrer Kinder, ...ihr Lebenswerk plattgewalzt. Es waren hochmoderne Maschinen. Sie walzten Geschichte platt und stapelten sie wie Baumaterial."
Zwischen Elend und Exotik
Arundhati Roy packt alles hinein in diesen Roman über ein sich entwickelndes und zugleich zersplitterndes Indien, sie entwirft deprimierende, grausame und abstoßende Bilder der Entwicklung ihres Landes, die mit den romantischen, fremdartigen Touristenimpressionen von Gurus, Ashrams und Yoga-Asanas nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Die Exotik der Rikschas prallt auf die bittere Armut derer, die sie fahren, die heiligen Kühe auf den Straßen fressen Plastiktüten, bis sie platzen und von der Kaste der Unberührbaren fortgeschafft werden. Die Bilder der prachtvollen Paläste, farbenfrohen Saris und weißen Dhotis zerbrechen im Unrat der Straßen, im Elend der Obdachlosen und im Glauben an Götzen:
"Die Verlogenheit unserer 330 Millionen tauben, dummen und stummen Götzenbilder, der selbstsüchtigen unmoralischen Gottheiten, die wir Ram und Krishna nennen, wird uns nicht vor Hunger, Krankheit und Armut retten. Unser alberner Glaube an Affen und elefantenköpfige Erscheinungen wird unsere verhungernden Menschenmassen nicht ernähren."
Ausgrenzung und Korruption
Es sind so viele Geschichten in diesem Buch, die einander folgen, überkreuzen, deren Figuren verschwinden und viele Seiten später wieder auftauchen. Man kann sich nirgendwo "festhalten", wird weitergeschubst durch Indiens Vergangenheit und Gegenwart, zu Menschen, die ausgegrenzt werden, zu korrupten Politikern, zu einem Baby, das auf der Straße liegt und zu niemandem gehört. Und doch ist es ein Delikt, es zu retten. Dienstboten "in abgelegten, teuren Sachen ihrer Arbeitgeber" werden von "noch besser gekleideten Hunden ausgeführt". Wir lernen Tilo kennen, die so sehr Züge der Autorin trägt, die Frau mit den Locken, geliebt von zwei Männern, deren Lebensweg sie zeichnet. Roy läßt nichts aus, nicht die Ermordung Indira Ghandis durch ihre Sikh-Leibwächter und das darauf folgende Massaker, nicht das Unglück von Bhopal, eine der weltweit schlimmsten Umweltkatastrophen.
Kraftvoll und poetisch
Arundhati Roy, weltberühmt geworden durch ihren Roman "Der Gott der kleinen Dinge", überrascht zwanzig Jahre später mit einem aufwühlenden, außergewöhnlichen und irritierenden Roman, kraftvoll und politisch, poetisch, bezaubernd und üppig, schockierend und abstoßend - nicht gerade eine leichte Lektüre, die Konzentration und den guten Willen zum Durchhalten verlangt – aber eine Lektüre, die sich unbedingt lohnt.
Und den "Ungetrösteten", denen sie dieses Buch widmet, schenkt sie am Ende doch noch Trost und Hoffnung, "weil Miss Jeeben, Miss Udaya Jeben gekommen war", das Baby von der Straße, das nun im Jannat Gästehaus aufwächst.
(Christiane Schwalbe)
Arundhati Roy, *1961 geboren, wuchs in Kerala auf, indische Schriftstellerin und politische Aktivistin, lebt in Neu-Delhi
Arundhati Roy "Das Ministerium des äussersten Glücks"
"The Ministry of Utmost Happiness" aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube
S. Fischer 2017, 560Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro, Hörbuch 27,99 Euro