Kim Thúy
Die vielen Namen der Liebe
"Ich war das Nesthäkchen, die kleine Schwester meiner drei großen Brüder, von allen beschützt wie ein kostbares Parfumfläschchen in einer Vitrine …. Mein Vorname, Bâo Vi, kündet von der Absicht meiner Eltern, 'die Kleinste zu beschützen'. Wörtlich übersetzt heiße ich 'winzige Kostbarkeit."
Verschont von Piraten
Die "winzige Kostbarkeit" muss wie viele andere Vietnamesen fliehen – als "Boat People" über's offene Meer. Zehn Jahre alt ist sie damals. Sie landet zusammen mit Mutter und Brüdern zunächst in einem Flüchtlingslager in Malaysia – auf dem ohnehin lebensgefährlichen Weg wenigstens verschont von Piraten, die viele andere Boote überfallen, Flüchtende ausrauben und Frauen vergewaltigen. Die Mutter lässt den Vater in Vietnam zurück, mit all' seinen Eskapaden eines verzogenen Sohnes, aber auch mit dem Reichtum einer gut situierten und (französisch) gebildeten Familie. Der Großvater war wohlhabender Großgrundbesitzer, ein von den Kommunisten Nordvietnams verhasster Angehöriger der Oberschicht.
Glück und Elend
Sie will ihre Kinder vor Umerziehungslagern und Indoktrination retten und ihnen ein gutes Leben ermöglichen. In Kanada, wo die Familie schließlich landet, wird sie versuchen, die Erinnerungen an vietnamesische Traditionen, an Têt-Fest und Aberglauben und vor allem an die vietnamesiche Küche zu bewahren - die Akribie, wenn es ums Kaffeekochen geht, um das Entbeinen und Füllen eines Huhnes oder das Rösten eines Fisches:
"Sie umhüllte uns mit dem Duft von gehacktem und geröstetem Zitronengras, das sich mit der knusprigen Haut der Fische vermählte, und dem von sautierten und in Limetten-Fischsoße getauchten jungen Bambussprossen."
Kim Thúy erinnert sich an Schönes, aber auch an Erschreckendes, zum Beispiel an den tragischen Tod einer Frau, die den gefahrvollen und entbehrungsreichen Weg durch den Golf von Siam mit Mühe überlebt hat, und dann - von einer Kokosnuss getroffen und ins Koma gefallen – stirbt. Und sie erzählt vom Elend der Flüchtlingslager, "wo bereits der Atem des einen dem anderen den Raum nahm", auch "von der Last der Geschichte und der Hinterlassenschaft eines Krieges …"
Als Erste durch die Tür
Wir folgen ihren Gedanken an den uralten Aberglauben der Großeltern, die "sehr großen Wert darauf gelegt (haben), dass zu Neujahr die richtige Person als Erste durch die Tür kam. Davon hing Erfolg oder Pech für das kommende Jahr ab."
Und sie erzählt humorvoll von den ersten Eindrücken in der neuen Welt, wenn die Familie in Kanada bei großer Hitze ankommt und Männer mit entblößtem Oberkörper beobachtet, ihren Bauch zur Schau stellend,
"wie die Putai, die lachenden Buddhas, die den Händlern finanziellen Erfolg und allen anderen Freude versprechen, wenn sie ihre Rundungen reiben. Viele vietnamesische Männer träumen davon, dieses Symbol des Reichtums zu besitzen, aber nur wenige schafften es."
Als Mädchen unsichtbar
Sie lässt uns miterleben, dass die kleine Bâo Vi sich insgeheim und in Gedanken mit dem Mädchen anfreundet, dem die roten Kunstlederstiefel gehört haben, die ihre Mutter für die kanadische Kälte erwirbt, aber auch den Druck der Tradition spüren, als Mädchen und Frau möglichst unsichtbar zu bleiben. Bâo Vi tut genau das nicht, sie studiert, lernt Männer kennen und lieben, kehrt eines Tages als Juristin in ihre alte Heimat zurück, um in Hanoi zu arbeiten - also für die Kommunisten - für die Freunde der Familie eine Todsünde.
Poetisch und berührend
Kim Thúy entwirft ein überaus vielfältiges Kaleidoskop, melancholisch, poetisch, und in den vielen fein gezeichneten Erinnerungsbildern und Skizzen der alten wie der neuen Welt beeindruckend und berührend. Sie beschreibt die Emanzipation einer jungen Frau, die gezwungen ist, sich in der westlichen Welt zu behaupten, ohne die eigene Vergangenheit und damit die vielfältigen Formen der Liebe zu den Eltern, zur Heimat und zu ihren Traditionen zu verleugnen, sie zumindest in der Seele zu bewahren:
"Der Erfolg eines Kindes gehört den Eltern und seinen Ahnen. Jedes Familienmitglied ist solidarisch für alle anderen verantwortlich, die stärkeren tragen die Schwächeren. … Nichts, was meine Mutter oder ich besaßen, trug die Spur der Generationen, anders als unser Ahnenaltar, der seit mindestens hundert Jahren Zeuge aller Hochzeiten, Totengedenktage und Neujahrsfeste gewesen war. Ob er zum Zentrum einer anderen Familie geworden war, seit er uns geraubt wurde?"
(Christiane Schwalbe)
Kim Thúy, *1968 in Saigon, mit ihren Eltern als boat people nach Kandada geflohen, Rechtsanwältin, Übersetzerin und Journalistin, lebt in Montreal
Kim Thúy "Die vielen Namen der Liebe"
"Vi" aus dem Französischen übersetzt von Andrea Alvermann und Brigitte Große
Roman, Kunstmann 2017, 150 Seiten, 18 Euro
eBook 14,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Kim Thúy
"Großer Bruder, kleine Schwester"
"Das Geheimnis der Vietnamesischen Küche", Kochbuch