Brigitte Giraud
Einen Körper haben
Wie merkt man eigentlich, dass man einen Körper hat? In der Regel, wenn er schmerzt, seine Funktionen nicht erfüllt, beobachtet oder missachtet wird. So geht es auch der namenlosen Ich-Erzählerin, die als kleines Mädchen, krank im Bett liegend, ihren Körper das erste Mal wirklich spürt – die Spritzen gegen die Krankheit tun weh.
Gegen alles Mädchenhafte
Noch schlimmer aber ist die Scham, entblößt zu werden - eine erste bewusste Körpererfahrung, noch "neutral":
"Ich weiß nicht, dass ich ein Mädchen bin, und ich sehe keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Dingen … Ich klettere auf die Bänke der Grünanlage, erklimme die Rutsche von unten, hänge mich an den Knien auf. Ich erprobe meinen Körper eher in Shorts als in einem Kleidchen … Ich wehre mich gegen alles Mädchenhafte, weiß es aber nicht."
Dieses Wissen beginnt, als die Mutter ihr ein Rüschenkleid anzieht, in dem sie fast erstickt, "Sie entscheidet für mich ein Schicksal als Mädchen." Und damit beginnt die soziale Rolle der Prinzessin, die aus ihrem Turm befreit werden muss. Lautes Herumtoben ist nichts für Mädchen.
Körper als Objekt
Aus der anfangs unbefangenen Körperlichkeit wird eine Rolle, deren Erfüllung sich in den Augen der Eltern, des Bruders, des ersten Freundes spiegelt. Vor allem die Mutter wird darauf achten, dass ihr Mädchen nicht ausschert:
"Sie zeigt auf ein Sandwich, dass ich mir gerade mit einer dicken Schicht Butter bestrichen habe, und sagt, sie hoffe, dass ich doch wohl nicht 'das alles' essen wolle … dass ich sonst zu viele Formen bekomme … Ich begreife es und komme dann ins Zweifeln und betrachte meinen Körper zum ersten Mal als ein Objekt, auf das ich einwirken kann."
Die Leichtigkeit des Seins ist eingeschränkt, man darf als Mädchen dies nicht und das nicht, "das ist der Beginn von Qualen".
Eine Sache des Willens
Körper wird zum Ausweis für Weiblichkeit, muss äußeren Ansprüchen genügen, Idealvorstellungen abbilden, dem kontrollierenden Blick der Mutter standhalten:
"Ich lerne eine Vielzahl neuer Gefühle kennen, Verantwortung und Schuldgefühle. Sie vermittelt mir unweigerlich, dass Schönheit eine Sache des Willens ist. Ich höre sie oft über hässliche Frauen lästern und vor allem über dicke Frauen, die sie insgeheim verachtet."
Von Kopf bis Fuß
Brigitte Giraud schildert die Entwicklung der Ich-Erzählerin vom Kind zum Mädchen, zur Frau, zur Geliebten, zur Partnerin und Mutter. Dies geschieht allein über die Körperwahrnehmung, über das rein subjektive Empfinden, sie beobachtet im Sinne des Wortes von Kopf bis Fuß, reflektiert die Entwicklung mit fast befremdlicher Distanz und Kühle – als gehörten Kopf und Körper nicht wirklich zusammen, als betrachte der eine den anderen. Das verändert sich erst im Schmerz über den Verlust des Freundes, des Vaters ihres Sohnes, der tödlich verunglückt. Körper und Seele verbinden sich in gemeinsamer qualvoller Trauer.
Ein Buch gegen den Körperwahn, gegen Perfektion und Entfremdung von sich selbst, gegen soziale Normen und Zuordnungen, eindringlich erzählt. Und doch wirkt der Roman in seiner feministischen Genauigkeit, die an die Anfänge der Frauenbewegung erinnert, fast ein wenig aus der Zeit gefallen.
(Christiane Schwalbe)
Brigitte Giraud *1960 in Algerien, französische Autorin mehrerer Romane und Verlegerin, lebt in Lyon
Brigitte Giraud "Einen Körper haben"
Roman. Deutsch von Anne Braun
S. Fischer 2016, 256 Seiten, 19,99 Euro
eBook 18,99 Euro