Cho Nam-Joo
Kim Jiyoung, geboren 1982
Kim Jiyoung, verheiratet, Mutter einer Tochter, verhält sich plötzlich seltsam. Die sonst stets gut gelaunte Frau starrt immer häufiger geistesabwesend in die Luft, beginnt grundlos zu weinen, und eines Tages tritt sie ihrem Mann in der Rolle ihrer eigenen Mutter entgegen und nennt ihn Schwiegersohn.
Typisches Frauenschicksal
Es bleibt nicht bei diesem einen Vorfall - sie entwickelt eine Störung ihrer Persönlichkeit, leidet unter Depressionen und Erschöpfung und muss sich in psychiatrische Behandlung begeben. Was wir dann lesen, ist ein nüchterner Bericht über ein typisches, koreanisches Frauenschicksal: Frauen haben sich den Männern unterzuordnen, möglichst viele Söhne zu gebären, sich auf Haushalt und Erziehung zu konzentrieren. Männer werden in allen Lebensbereichen bevorzugt, auch dann noch, als Mädchen und Frauen beginnen, die höhere Schule zu besuchen, um ein Studium oder eine Berufsausbildung zu machen – mit deutlich schlechteren Chancen, einen Job zu finden:
„Wenn Frauen zu klug sind, fürchten Firmen, dass sie sich mit ihnen nichts als Ärger ins Haus holen. ... Hatte eine Frau Schwächen, kam sie deshalb nicht infrage. War sie brillant, galt sie als Unruhestifterin. Und was sagte man ihr, wenn sie mittelmäßig war? Tut uns leid, Sie sind zu durchschnittlich?"
Ein anderes Leben
Kim Jiyoung hat studiert und sich deshalb ein anderes Leben vorgestellt – unterstützt von der Mutter, einer praktisch veranlagten und durchsetzungsfähigen Frau, die nach außen das ihr zugewiesene Leben als Hausfrau in einer patriarchalischen Gesellschaft spielt: Sie verdient Geld mit Handlangerdiensten zuhause, bringt nach zwei Mädchen doch noch den ersehnten Sohn zur Welt, bereitet dem arbeitenden Mann ein möglichst angenehmes Leben, hätschelt und verwöhnt den Sohn zum Nachteil der Mädchen. Aber letztendlich tickt sie dann doch anders und mausert sich zur cleveren Geschäftsfrau, die ihre Töchter studieren läßt. Nach dem Examen findet Jiyoung – wenn auch mühsam - einen Job in einer Marketinfirma – aber zunächst sieht sie es dort
„ ...als ihre Aufgabe an, morgens jedem im Team Kaffee nach seinem Gusto zu bringen, sich im Lokal um das Besteck zu kümmern und, wenn sich das Team Essen liefern lassen wollte, die Bestellungen aufzunehmen und den Lieferservice anzurufen. Wenn alle mit dem Essen fertig waren, kümmerte sie sich um die Reste und das Geschirr."
Überholte Traditionen
Natürlich muss sie sich auch demütigende Anzüglichkeiten, verächtliche Bemerkungen und sexistische Anmache gefallen lassen. Kurzum: In einem technisch und wirtschaftlich hoch entwickelten Land, so erzählt Cho Nam-Joo mit kühler Präzision, werden überholte Rituale gepflegt, die Frauen zu Menschen zweiter Klasse machen. Ein gesellschaftlicher Druck, der ihnen nicht nur die Motivation, sondern oft auch die Energie nimmt, sich gegen diese Traditionen zur Wehr zu setzen. Kim gibt ihren Job auf, als sie schwanger ist. Nach der Geburt ihrer Tochter beginnt sie, sich zu verändern.
„Jiyoung wurde gelegentlich zu einer anderen Person. Manche dieser Personen lebten noch, manche waren bereits tot. Alle waren Frauen aus ihrem unmittelbaren Umfeld ... Ihr Unterbewusstsein ließ sie voll und ganz zu diesen Personen werden.”
Politischer Weckruf
Eine Frauenbiografie als Fallbeispiel also, mit schmerzhafter Genauigkeit beschrieben, inklusive Fußnoten und statistischer Daten – notiert von dem Psychiater, wie wir zum Schluß erfahren, der Kim Jiyoung jahrelang behandelt hat. Cho Nam-Joo sagt im Nachwort:
„Die ganze Zeit über, in der ich diesen Roman schrieb, hatte ich Mitleid mit ihr und war bedrückt. Doch ich weiß, dass sie genauso aufgewachsen ist und keinen anderen Weg gewusst hat. Auch ich habe es so erlebt.”
“Kim Jiyoung, geboren 1982” ist formal kein Roman im herkömmlichen Sinn, wohl aber ein politischer Weckruf, der nicht nur in Südkorea ein großes Echo gefunden hat.
(Christiane Schwalbe)
Cho Nam-Joo, *1978 in Seoul, Südkorea, koreanische Drehbuchautorin und Schriftstellerin, “Kim Jiyoung, geboren 1982” wurde weltweit bereits zwei Millionen mal verkauft
Cho Nam-Joo „Kim Jiyoung, geboren 1982"
aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 208 Seiten, 18 Euro
eBook 14,99 Euro