Claudia Petrucci
Die Übung
„Würdest du dir nicht wünschen, dass es auch mich in einer besseren Version gäbe? Unternehmungslustiger, mutiger, stärker…“ - eine Frage, die Filippo seiner Mutter stellt und die in Zeiten der Selbstoptimierung und der fluiden Identitäten weitgehende Konsequenzen haben kann.
Enge Zweisamkeit
Filippos Freundin Giorgia führt mit ihm ein unspektakuläres, ärmliches Leben, arbeitet an der Kasse eines Supermarkts, während er nach seinem Studium keinen Job fand und die Kaffeebar seines Vaters übernahm. Sie reden sich ein, es handele sich um eine vorübergehende Flaute des Lebens, doch
„unsere Planungsanstrengungen scheitern an Finanzen und Steuerfälligkeiten, monatlichen Fristen und notwendigen Ausgaben. Einen Großteil unserer Zeit denken wir ans Geld und tun so, als ob wir nicht daran dächten,“
so Filippo. Er weiß um Giorgias Fragilität und hält strikte Regeln und enge Zweisamkeit für hinlängliche Mittel, seine Freundin zu stützen, doch ist er nicht selbst viel mehr darauf angewiesen? Schon hier, zu Beginn, stellt der Roman die Frage, ob nicht Kontrolle und sanfte Manipulation die entscheidende Rolle für ein Zusammenleben spielen.
Gewagtes Spiel
Als Giorgia den Theaterregisseur Mauro wiedertrifft, werden ihre Träume von einer Schauspielkarriere wieder wach, doch die Produktion endet, wie schon Jahre zuvor, im Chaos: sie landet in einer psychiatrischen Klinik, psychotisch und verstummt. Mauro und Filippo wollen ihr helfen, verstricken sich jedoch in einem gewagten Spiel, der „Übung“: mal als Komplizen, dann wieder als Konkurrenten entwickeln sie ein Skript, auf das die junge Frau, in der ja auch eine begabte Schauspielerin steckt, anspricht. Sie nimmt die mehr oder weniger genau ausgearbeiteten Regeln der beiden an, folgt den Skripten und findet aus ihrem Stupor heraus:
„Es ist erschreckend: als hätte sich jemand in ihre Haut eingeschlichen, die Leere hinter ihren Augen ausgefüllt und ihren Körper wieder zum Leben erweckt.“
Claudia Petrucci spielt geschickt mit den Allmachtsphantasien der beiden Männer, die der Frau scheinbar zu einem besseren Leben verhelfen wollen. Doch an ihren eigenen verqueren Vorstellungen ihrer möglichen Identität scheitern sie, in unterschiedlicher Weise und mit ungeahnten Folgen für sie alle. Die Autorin, Jahrgang 1990, setzt auch den modischen Debatten um Identität eine Geschichte entgegen, mit der sie die Grenzen auslotet, die der angeblich so freien Wahl gesetzt sind.
„Die Krankheit anzunehmen, sich von ihr beherrschen zu lassen. Das Potential der Krankheit – teilweise identisch mit derjenigen, die alle angesteckt zu haben scheint -, sie zu etwas zu machen, was sie nicht ist, von jeglichen Wurzeln befreit.“
Gefährliche Psychose
Was sie hier als Potential einer Krankheit beschreibt, ist ein Symptom der modernen Gesellschaft, die äußerste Machbarkeit des Selbst suggeriert, die Bedingungen, die die Menschen dafür mitbringen, jedoch maßlos unterschätzt. Dass sie ihrer Protagonistin Giorgia, bei aller Gefährdung durch ihre Psychose, ihr Geheimnis und einen interessant ausgearbeiteten Handlungsspielraum belässt, zeichnet ihren gelungenen Romanerstling besonders aus, ebenso wie seine sorgfältige und von Mirjam Bitter erstklassig übersetzte Sprache.
„Ich leide nicht unter diesem Ich-Mangel, diesem Fehlen von mir als Individuum, das ist ein abstraktes Konzept, letztlich wertlos. Was bin ich denn? Man zwingt mich, mir eine Frage zu stellen, auf die es keine Antwort gibt. Wonach sollte ich mich sehnen? Nach meiner schrecklichen Kindheit, nach der Familie, die ich nicht hatte? Ich will, was alle wollen: mich auflösen.“
(Lore Kleinert)
Claudia Petrucci, *1990, italienische Literaturwissenschaftlerin, für ihren Debütroman „Die Übung“ erhielt sie 2020 den renommierten Preis „Premio Flaiano“, sie lebt in Perth/Australien.
Claudia Petrucci „Die Übung“
aus dem Italienischen von Mirjam Bitter
Roman, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2022, 300 Seiten, 23 Euro