Muriel Barbery
Eine Rose allein
Rose, eine Frau von vierzig Jahren, ist nach Kyoto gereist, weil ihr Vater, der reiche Kunsthändler Haru sie in seiner Heimat zur Eröffnung seines Testaments geladen hat.
Trostloses Leben
Sein Tod berührt sie kaum, anders als der ihrer depressiven Mutter fünf Jahre zuvor, denn sie kannte ihn nicht, weil ihre Mutter ihn mit Schweigen bestrafte und der Tochter verschwieg. Rose empfindet ihr eigenes Leben als trostlos und leer.
„Aber die Jahre vergingen, und das Eiswasser ihrer Albträume, schwarzes Wasser, in dem sie langsam ertrank, flutete nach und nach ihre Tage.“
Muriel Barbery skizziert die einsame Frau als Menschen, unter dessen Verbitterung sich viel Wut angestaut hat, und behutsam legt sie Schicht um Schicht bloß, während Rose einen japanischen Garten nach dem anderen und viele schöne Tempel besucht. Widerwillig zunächst, und im Haus ihres Vaters umsorgt von Sayoko, der japanischen Angestellten ihres Vaters und von seinem Chauffeur Kanto. Und von Paul, seinem Assistenten und Freund, einem Witwer, der versucht, ihr die japanische Lebensart, das Essen, die Schönheit der virtuos gestalteten Natur nahezubringen und ihren freudlosen Widerstand gegen Nähe ins Wanken zu bringen. Wer ist sie wirklich? Die Annäherung an eine Welt, in der „das Wirkliche keine Rolle spielt“, könnte kitschig und banal wirken, wäre da nicht der zarte und höchst kunstvolle Bezug zur Natur Japans, zu den Blumen, zur Geschichte und Kunst des Landes. Wie Wegmarken setzt die Autorin kleine Legenden aus Japans Tradition zwischen Roses Erkundungen, die die Blüten, Bäume oder Moose der Tempel in ein besonderes Licht tauchen. Der traurigen Frau, die noch dazu Botanikerin ist, eröffnet die Autorin so einen außergewöhnlichen Zugang zu sich selbst und ihrer fremden Umgebung.
Nähe im Fremden
Barberys Prosa erinnert an die Tuschzeichnungen japanischer Meister, die die Kunst der Reduzierung und Konzentration beherrschen und zugleich Freude am Improvisieren haben. Dass Rose einen Zen-Garten mit einem großen Katzenklo vergleicht, provoziert einen Kunsttöpfer und Kalligrafen ebenso wie Paul zu Heiterkeitsausbrüchen und gibt auch der Selbstironie und unkonventionellem Verhalten im sonst so höflichen Japan Raum.
„Er bekam einen Lachanfall und war für einen Moment wie verwandelt. Das ist der Paul von früher, dachte sie, der Paul, der durch den Tod der anderen getötet wurde.“
Zwei Überlebende bewegen sich aufeinander zu und versuchen, ihre Furcht zu verwandeln. Die zornige, verspannte und nicht sonderlich sympathische Rose muss dabei den weiteren Weg gehen, und sie fragt sich: „Was betrauert man mehr, was man verloren oder was man nie gehabt hat?“ Die Entdeckung der Nähe im Fremden ist die dezente Botschaft dieses fein komponierten Romans.
(Lore Kleinert)
Muriel Barbery, *1969 in Casablanca/Marokko, Professorin der Philosophie . mehrfach ausgezeichnete französische Schriftstellerin, lebt in Kyoto/Japan und in Frankreich>
Muriel Barbery „Eine Rose allein“
aus dem Französischen von Norma Cassau
Roman, List Ullstein 2022, 208 Seiten, 20,60 Euro
eBook 15,99 Euro, AudioCD 20 Euro