Stefan Hertmans
Der Aufgang
Ein verfallenes Patrizierhaus „mit pockennarbiger Fassade” in der Altstadt von Gent hat es dem Autor angetan, es ist renovierungsbedürftig bis unters Dach. Der Autor, damals 28 Jahre alt und junger Lehrer, kauft es „aus einem Impuls heraus und für einen Betrag, für den man heute nicht einmal mehr ein mittelgroßes Auto bekommt.”
Bekenntnisse des Sohnes
„Bei der Besichtigung des Hauses entgingen mir der Schimmel und die Feuchtigkeit keineswegs, auch nicht das Brackwasser in den vollgelaufenen Kellern oder die verstreut herumstehenden vermoderten Möbel, vor allem aber sah ich das hohe Treppenhaus, den wunderbaren Kamin aus rosabräunlichem Marmor im vorderen Wohnzimmer ..."
Auf dem mal eine Hitler-Büste stand. Erst 20 Jahre später, da ist das Haus bereits wieder verkauft, erfährt Hertmans, wer früher in diesem Haus gewohnt hat: Willem Verhulst, ein fanatischer Nazi, der als Spitzel Hunderte von Landsleuten denunziert hat. Hertmans erfährt es aus dem Buch eines alten, renommierten Geschichtsprofessors, bei dem er selbst noch studiert hat: Adriaan Verhulst ist der Sohn dieses Mannes, aber er stirbt, bevor Hertmans mit ihm reden kann, und er ist in der Beschreibung seines Vaters eher zurückhaltend:
„In den nicht ganz unproblematischen Bekenntnissen, verfasst gegen Ende seines Lebens, erinnert er sich irgendwann auch des Hauses, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, wobei er mich namentlich als den aktuellen Bewohner erwähnt."
Spurensuche
Mit diesem Buch also beginnt Hertmans Spurensuche – zunächst in der vielköpfigen Familie eines Diamantenschleifers. Willem kommt als neuntes Kind zur Welt, erblindet mit vier Jahren auf einem Auge, verliert mit 13 Jahren seine Mutter, wird als flämischer Junge von den französischen „Bürgersöhnchen” in der Schule verprügelt, radikalisiert sich als Erwachsener bei den Flandern-Aktivisten und träumt vom Anschluß Flanderns an ein großgermanisches Reich. Von Willems hochbetagter Schwester Letta erfährt Hertmans, dass er wegen seines kaputten Auges ungeschickt war mit Waffen:
„... er sah halt immer nur die Hälfte vom Schützenfest, deshalb hat er auch Hitlers Gipskopf vom Kamin geschossen. Für die Waffen-SS war Vater untauglich, also wurde er V-Mann, das heißt, Spion für den deutschen Sicherheitsdienst ... uns hat er nie verraten, was er im Krieg alles verbrochen hat."
Typischer Schreibtischtäter
Verheiratet ist Verhulst zunächst mit einer Jüdin, später mit einer erklärten Pazifistin, die seine Arbeit als Spitzel für die Nazis kategorisch ablehnt. Als flämischer Nazi-Kollaborateur ist ein Schreibtischtäter, der umfangreiche Listen anfertigt, seine Landsleute als „Reichsfeinde” denunziert und in den Tod schickt, wie 1942 bei einer Vergeltungsaktion für einen Anschlag des Widerstands:
„Es werden viele Gefangene gemacht ... und ins berüchtigte Lager von Breendonk gebracht, wo sie wahrscheinlich der Folter zum Opfer fallen. Willem aber sitzt derweil ruhig am Schreibtisch und erstellt Listen, Listen über Listen. Sein Spionagedienst arbeitet diskret und effizient; selbst die engsten Mitarbeiter lässt er durch Dritte überwachen, man kann ja nie wissen."
Als er sich nach dem Krieg nach Deutschland absetzt, wird er aufgespürt und in Belgien wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die Strafe wird umgewandelt in lebenslang und Verhulst nach ein paar Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen.
Wachsender Fanatismus
Hertmans Rekonstruktion beginnt beim Buch des Professors. Der Sohn schrieb durchaus nicht nur kritisch über seinen Vater. Wichtige Fakten, die er unter den Tisch fallen ließ, sucht und findet der Autor in anderen Quellen, in Chroniken, Dokumenten und Gesprächen, in alten Manuskripten, Briefen, Tagebüchern und Fotos. Ergänzt wird durch fiktive Szenen, Beobachtungen, Erinnerungen. Sorgfältig und detailgenau rekonstruiert er das vielteilige Puzzle von Willems Leben und Tun, gibt seinen Figuren Persönlichkeit und Stimme. Die Porträts formen sich langsam heraus, werden zunehmend deutlicher, während er ihre Geschichte rekonstruiert: Willem, der sich berufen fühlt, Flandern auf dem Weg ins großdeutsche Reich zu begleiten; Mientje, seine Frau, die zunächst nur vage vermutet, was Willem da treibt, warum er plötzlich über ein enorm hohes Gehalt verfügt, dass er politisch auf Abwege gerät und seine Frau betrügt; schließlich auch die Geliebte, eine ebenfalls fanatische Nazianhängerin und deutlich jünger als Willem. Sogar den Bildhauer der Hitler-Büste findet er, es ist ein Freund und berühmter Künstler in Flandern.
In der kunstvollen literarischen Verknüpfung von Realität und Fiktion, von Gesprächen und Dokumenten, persönlicher Anteilnahme und inneren Stimmen, entsteht ein überaus spannender und vielschichtiger Roman über die „politische Tragödie einer Familie".
(Christiane Schwalbe)
Stefan Hertmans, *1951 in Gent/Belgien, Dichter, Dramatiker, Romancier, gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren, lebt in Brüssel
Stefan Hertmans „Der Aufgang"
aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Roman, Diogenes 2022, 480 Seiten
eBook 22,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Stefan Hertmans
"Die Fremde"
"Der Himmel meines Großvaters"