Stefan Hertmans
Der Himmel meines Großvaters
1914 marschieren die Deutschen ins neutrale Belgien ein, um von hier aus Frankreich zu besiegen. An der Yser-Front in Westflandern kämpfte auch Stefan Hertmans Großvater Urbain, Sohn eines Kirchenmalers, der den Himmel über alles liebte.
Bittere Armut
Er wächst in bitterer Armut auf, das wenige Geld, das der Vater verdient, geht immer wieder für Medikamente drauf. Er stirbt viel zu früh an Asthma, sein Tod bringt Urbains Mutter fast um den Verstand. Der Kinder wegen heiratet sie wieder. Der Junge ist schlecht in der Schule und bekommt keine Lehrstelle. In einer Eisengießerei findet er schließlich Arbeit – gefährliche Schwerstarbeit, mit gerade mal 13 Jahren. Seine Leidenschaft bleibt die Malerei, später entwickelt er sich zu einem glänzenden Kopierer der Alten Meister.
Das Grauen des Krieges
Aber zuvor muss er an die Front, erlebt das Grauen von Materialschlacht und Stellungskrieg. Seine Erlebnisse bringt er erst mit 72 Jahren zu Papier. Und auch dann bleiben sie noch lange ungelesen:
"Die Hefte, in die er in einer unvergleichlichen Vorkriegshandschrift seine Erinnerungen niedergeschrieben hat, befanden sich bereits mehr als dreißig Jahre lang in meinem Besitz, bevor ich den Mut aufbrachte, sie zu öffnen. Er gab sie mir einige Monate vor seinem Tod 1981, er war damals 90 Jahre alt."
Spurensuche
Nach der Lektüre begibt sich Hertmans auf Spurensuche, nähert sich mit detaillierten Recherchen, mit Gedanken und Reflexionen dem Leben seines Großvaters, das aus vielen kleinen und großen Tragödien bestand. Glück hatte dieser Mann so gut wie nie, aber den Krieg, den überlebte er, dreimal schwer verletzt und als aufrechter Soldat immer wieder brav zurückgekehrt an die Front, um seine Pflicht zu tun.
"Die Moffen, wie wir die Deutschen nennen, sind nie fern, liegen ständig auf der Lauer und zerren an unseren Nerven. Ausbrüche blinden Hasses sind die Folge – so mancher stürzt in einem Anfall von Raserei mit dem Gewehr im Anschlag vorwärts, um Sekunden später von Kugeln durchlöchert auf dem sumpfigen Vorgelände zu liegen. Nachts riskieren wir unser Leben, um den Selbstmörder zu bergen, damit er wenigstens in einer schäbigen Mulde verscharrt und als 'gefallen auf dem Feld der Ehre' verzeichnet werden kann."
Sehnsucht nach Liebe
Nach dem Krieg verliebt er sich unsterblich – aber die spanische Grippe rafft die Verlobte dahin, er heiratet ihre Schwester, mit der er eine gute, wenn auch leidenschaftslose Ehe führt. Seine Kopie von Velázquez Rokeby-Venus wird von einer lebenslangen Sehnsucht erzählen und seine Malerei, das ist die Erfüllung seines Lebens, sein Glück und seine Leidenschaft.
Gewissenhafter Berichterstatter
Hertmans hat seinen Roman in drei Teile gegliedert: Er ist Ich-Erzähler im ersten und dritten Teil, in denen der Leser seiner Spurensuche Schritt für Schritt folgen kann, sein Großvater ist der Ich-Erzähler des mittleren Teils, der ausschließlich den Kriegserlebnissen gewidmet ist. Er beschreibt die bittere Realität des Krieges, das Töten und Sterben, präzise und nüchtern, als gehorsamer Soldat und gewissenhafter Berichterstatter, der seine Gefühle für sich behält.
"Meine Geschichte wird monoton, so wie der Krieg monoton wurde, der Hass auf die Deutschen monoton wurde, der Tod monoton wurde, das Leben monoton wurde und uns schließlich entsetzlich anwiderte."
Kriegstrauma
Hertmans erzählt das tragische Leben seines Großvaters, der auch nach dem Krieg nur in seiner Malerei zu sich selbst findet, mit großer Genauigkeit und Anteilnahme – nicht nur als eine berührende Familiengeschichte zwischen Kunst und Krieg, sondern zugleich als eindringliches Dokument über das Trauma des Krieges.
(Christiane Schwalbe)
Stefan Hertmans *1951 in Gent, belgischer Schriftsteller
Stefan Hertmans "Der Himmel meines Großvaters"
Hanser 2014, 320 Seiten, 21,90 Euro
eBook 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Stefan Hertmans
"Der Aufgang"
"Die Fremde"