Ayelet Gundar-Goshen
Löwen wecken
Kein Kratzer an Dr. Etan Griens neuem Jeep, aber der Mensch, den er nachts angefahren hat, stirbt. In Panik fährt der Neurologe nach Haus und lässt den Mann an der Wüstenpiste liegen – und damit beginnt eine außergewöhnliche Geschichte, die Ayelet Gundar-Goshen sprachgewaltig komponiert.
Gewagter Versuch
Als nämlich am nächsten Tag eine eritreische Flüchtlingsfrau dem jungen Arzt sein Portemonnaie bringt, das neben der Leiche lag, will sie ihn nicht verraten und auch kein Geld. Die Frau des Toten, Sirkit, schön und stolz, zwingt ihn, Nacht für Nacht ihre Landsleute medizinisch zu versorgen, während seine Ehefrau, die Polizistin Liat, sich auf die Suche nach dem Fahrerflüchtigen macht. Eine gewagte Versuchsanordnung, und die Autorin spielt facettenreich und mit vielen Verzweigungen durch, wie sich die Beteiligten verändern.
Defizite erkennen
Etan ist gezwungen, alle zu belügen und sich in der Klinik illegal mit Medikamenten zu versorgen, und er muss sich in dieser Zwangslage, in der er verfolgte Menschen versorgt und rettet, fragen, was er eigentlich über sich weiß:
"Einundvierzig Jahre läuft er in diesem Körper herum, meint, ihn zu kennen. Und plötzlich begreift er, all sein Wissen reicht nicht aus, ist vielleicht sogar falsch … Denn auf der Flucht begegnet er dem, vor dem er geflüchtet ist, trifft Etan Grien in seiner Verwaistheit, seiner Wut, seinem Herrentum, verliert an Selbsterkenntnis und gewinnt an Kenntnis um sein Defizit."
Gegen alle Klischees
Und fast wider Willen kommen sich Sirkit und er näher, beginnen, übereinander nachzudenken, und die Fremdheit des jeweils anderen sickert in ihre so gänzlich unterschiedlichen Leben ein. Die israelische Autorin weist mit Engagement auf das Flüchtlingsproblem ihres Landes hin, und es gelingt ihr, eine Innensicht der verzweifelten Situation vor allem der geschundenen Frauen aus Eritrea zu gestalten, die sich allen Klischees widersetzt. Sirkit steht dabei im Zentrum, auch sie verändert sich, je mehr sie ihre eigenen Wünsche erkennt.
"Was kann er denn dafür, dass bei ihm alles geordnet und erklärlich ist. Was kann er dafür, dass er nichts mit Geschichten anzufangen weiß, in denen es keine Ordnung und keine Erklärung gibt, Geschichten, die wie ein Sandsturm kommen und auch so vorübergehen."
Gnädige Lügen
Auch die Polizistin Liat muss im entlegenen Beer Sheva, am Rand der Wüste neu über ihren Mann, ihre Ehe und Familie nachdenken, während sie versucht, im unzugänglichen Leben der Beduinen und der eritreischen Flüchtlinge herauszufinden, was wirklich passiert ist, und am Ende sind es doch immer die gnädigen Lügen, die das Weiterleben, den Alltag ermöglichen. Ayelet Gundar-Goshen schildert diesen Alltag – in der Klinik, dem Zuhause, dem Polizeirevier und den Behausungen der Flüchtlinge – nuancenreich, wenn auch mitunter allzu weitschweifig, doch der großen Spannung, die aus der Begegnung der unterschiedlichen Welten erwächst, tut das keinen Abbruch.
Verständnis für den Menschen
Die Autorin lebt als Psychologin in Tel Aviv und versteht ihre Arbeit so: "Wenn man mit einem Patienten spricht, der etwas getan hat, was man moralisch verurteilt, muss man trotzdem versuchen, seine Motivation zu verstehen. Weder als Psychologe noch als Schriftsteller hat man das Privileg, jemanden zu verurteilen."
Umso deutlicher ist ihr Roman von Kritik an der israelischen ebenso wie an allen anderen Gesellschaften getragen, die Flüchtlingen keine Chance zum Überleben geben.
(Lore Kleinert)
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, Psychologin und Autorin lebt in Tel Aviv
Ayelet Gundar-Goshen "Löwen wecken"
aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama
Roman, Kein & Aber 2015, 432 Seiten, 22.90 Euro
Weiterer Buchtipp zu Ayelet Gundar-Goshen
"Wo der Wolf lauert"