Giulia Caminito
Das Wasser des Sees ist niemals süß
„Jedes Leben beginnt mit einer Frau, so auch meins, es ist eine Frau mit rotem Haar, die ein Zimmer betritt …“
Elementare Kraft
Der Roman beginnt mit einer grandiosen Szene: Die Mutter der Erzählerin mischt das Kommunale Wohnungsamt auf, kämpft um das Recht ihrer sechsköpfigen Familie auf menschenwürdiges Wohnen, bis sie am Boden liegt und schreit wie „ein erbarmungsloses wildes Tier“. Gaias Blick auf ihre Mutter Antonia bleibt im ganzen Roman so wie in diesem fulminanten Auftakt, bewundernd und zugleich abgestoßen von einer elementaren Kraft, die das Kind und später die heranwachsende und die junge Frau nur als einengend und fehlgeleitet erlebt. Wie im Film entsteht das Bild einer Mutter, die dafür sorgt, dass das rothaarige Kind sich ungenügend fühlt, die nur fordert und beschämt, niemals bestärkt und ermutigt.
Angefeuert von der Mutter
Und zugleich ist doch sie es, die das Geld verdient und dafür sorgt, dass die Familie in Sozialwohnungen einziehen kann, in Rom, dann in der Kleinstadt Anguillara am Lago di Bracciano und schließlich, am Ende, als Gaia mit ihrem Studium scheitert, wieder in Rom. Ein böser, todtrauriger und ungeheuer genauer Blick, mit dem die Autorin das Mädchen, sein Leben und alles um sie herum betrachten lässt.
„Ich denke, wir sind Abfallmaterial, nutzlose Karten in einem komplizierten Spiel, angeschlagene Billardkugeln, die nicht mehr richtig rollen: Wir sind unbeweglich liegengeblieben wie mein Vater, der von einem unzureichend gesicherten Gerüst gefallen ist, auf einer illegalen Baustelle, ohne Vertrag und ohne Versicherung, und von hier unten sehen wir zu, wie die anderen sich Ketten mit Edelsteinen um den Hals legen.“
Als der Bruder Mariano in die Stadt flüchtet, beginnt das Mädchen in den abgelegten Kleidern die Chancen zu nutzen, die die Schule ihr bietet, auch hier angefeuert von der Mutter, die das sozialistische Ideal vom Aufstieg durch Bildung beschwört, dem sie selbst gern gefolgt wäre. Aber gerade ihr verzweifelter Druck auf die Tochter verstärkt deren Ambivalenz von Anfang an -
„Ihr Wir umfasst mich wie ein Gefängnis, dieses Wir, bei dem mich niemand gefragt hat, ob ich darin wohnen will…Dieses Wir, das dort unsichtbar im Raum steht, erschafft für mich Luftschlösser und Sümpfe.“
Mädchenfreundschaften
Da, wo sie ist, will sie nicht sein, verachtet die Mutter, deren Stärke sie nicht anerkennen kann, und bleibt den Brüdern und dem Vater fremd, weil Vertrautheit Schwäche wäre. Julia Caminito, deren Roman ausdrücklich keine Autobiografie und keine zurzeit so angesagte Autofiktion ist, führt ihre Heldin auf Abwege.
"Es ist in Ordnung, dass die anderen untergehen, dass ihnen erfundene und imaginäre Schuld zugeschrieben wird, das Wichtige ist, dass ich oben bleibe und an der Oberfläche treibe, im Licht auftauche."
Zwar ist sie geschickt und fleißig und erobert sich die schulischen Ziele, doch um anerkannt zu werden und dem Mobbing der gut Situierten zu entkommen, entwickelt sie andere Eigenschaften: Härte, Zähigkeit, zunehmend auch Gewalttätigkeit, und vor allem die Fähigkeit, ihr Innerstes, ihre Verletzbarkeit zu verstecken. Wie Caminito die pubertären Mädchenfreundschaften mit all ihren Fallstricken beschreibt, und die Erzählerin beschwört auch ihre Freundinnen und die jungen Männer um sie herum plastisch und lebendig, ist außergewöhnlich und bar jeder süßlichen Verklärung, und das ist auch Barbara Kleiners glänzender Übersetzung zu danken.
„Wir sind noch klein genug, um noch nicht von unserem eigenen Körper oder denen der anderen besessen zu sein, aber schon groß genug, um zu erahnen, dass die Art, wie wir einander anschauen, im Lauf der Jahre zu einem stillen Krieg führen wird, dass wir feindlichen Gruppen angehören und uns hinterrücks mit vergifteten Pfeilen beschießen werden.“
Mit der Lupe der Entdeckerin
Die Sommer am See, abseits vom Leben der Erwachsenen, entwickeln eine ganz eigene Dynamik, unpolitisch, auf der Jagd nach Konsum, vergnügungssüchtig. Wir erleben mit, welchen Preis das junge Mädchen für all die Selbstinszenierungen zahlt, wenn die Erzählstimme darüber berichtet, wie wenig resilient Gaia gegenüber Kränkungen ist, vermeintlichen und tatsächlichen; Mitgefühl etwa mit der Freundin, die sich umbringt und auch sich selbst gegenüber, ist kein Thema für sie. Sie psychologisiert nicht, sondern betrachtet sich selbst mit der Lupe der Entdeckerin, äußerst authentisch und zugleich mit dem Abstand derer, die die Tragik dieses Lebens immer schon ahnte. Die Schwäne auf dem Lago di Bracciano, Ende der 60er von Deutschen angesiedelt und immer wieder gefangen und gebraten, bis sich die Anwohner an sie gewöhnten, werden ihr zum Bild für die eigenen vergeblichen Anstrengungen:
„Ich war ein Schwan, man hat mich von außen hierher gebracht, notgedrungen wollte ich mich anpassen, dann habe ich gefaucht, getreten, Streit angezettelt, auch mit denen, die sich mit einem Stück harten Brots, mit ihren milden Gaben näherten.“
Die milden Gaben der vermeintlich besser Gestellten verstärken immer nur die Wut darüber, sich überanstrengen zu müssen und doch nicht wirklich dazuzugehören – Julia Caminito ist ein kraftvoller und authentischer Roman gelungen, dessen Sprache oft wie ein Poem über ein Leben klingt, das unbedingt ans Licht geholt werden muss.
„Ich bin die zerbrochene, undurchsichtige Frau, die, die sich an der Oberfläche spiegelt und die du immer nur zur Hälfte siehst.“
(Lore Kleinert)
Giulia Caminito, *1988 in Rom, Philosophin, Lektorin und Autorin, lebt in Rom
Giulia Caminito „Das Wasser des Sees ist niemals süß“
aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Roman, Verlag Klaus Wagenbach 2022, 320 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro