Emily St. John Mandel
Das Meer der endlosen Ruhe
November 2023 - unter der Überschrift „Für Siedlungen der Zukunft - Wasseranschluss auf dem Mond” ist im Berliner Tagesspiegel zu lesen: Menschen leben in futuristischen Wohnblocks, Roboterautos kurven umher, im Hintergrund steigt eine Rakete auf. Ohne Wasser ist das undenkbar ... es müssen lokale Vorkommen erschlossen werden: Wassereis, das in ewig dunklen Tälern des Mondes liegt."
Kolonien auf dem Mond
Emiliy St. John Mandel ist schon deutlich weiter. Olive, eine berühmte Schriftstellerin, lebt bereits auf dem Mond, in der ersten Mondkolonie, gebaut 2203:
"im stillen Tiefland des Meeres der Ruhe unweit der Stelle, wo die Astronauten der Apollo II in einem lang vergangenen Jahrhundert gelandet waren ... Es hatte beträchtliches Interesse an einer Auswanderung zur Kolonie bestanden. Die Erde war längst überfüllt, Hitze oder Überflutung machten weite Gebiete unbewohnbar. Die Architekten der Kolonie hatten für zusätzliche Bebauung reichlich Raum gelassen, der aber schnell ausverkauft war."
Mit Video- und Lichtinstallationen wird in einer riesigen Kuppel der irdische Himmel imitiert - mit Wolken und allem, was dazugehört - wenn das System nicht ausfällt, wie innerhalb eines Jahrhunderts auf der zweiten Mondkolonie im Jahr 2401. Wo die Menschen nun nicht mehr in einen blauen Himmel, sondern in die Schwärze des Weltalls sehen.
„Die Kosten für eine Reparatur hielt man für unerschwinglich ... Von 'Kolonie Zwei' redete bald niemand mehr; alle Welt nannte sie nur noch Night City, die Stadt, deren Himmel immer schwarz war.”
Unter einem Ahornbaum
Die ganz normale Erde gibt es im Jahr 2203 auch noch. Olive, die mit Mann und Tochter in der ersten Mondkolonie lebt, ist mit dem Luftschiff auf den alten Planeten gereist, um ihren neuen Roman vorzustellen. Während der Lesereise begegnet sie einem Journalisten, der denselben Namen trägt wie eine Figur in ihrem Buch „Marienbad”, in dem sie über eine Pandemie schreibt: Gaspery-Jacques Roberts. Eine neue Pandemie kündigt sich gerade an – alles nur Zufall? Gaspary befragt sie nach einem außergewöhnlichen Ereignis, einer Vision mit Geigenklängen unter einem Ahornbaum, das im Jahr 1912 einen englischen Aristokraten zutiefst verstört hat.
„Edwin macht einen Schritt ... in aufblitzende Dunkelheit wie bei plötzlicher Blindheit oder einer Sonnenfinsternis. Er hat den Eindruck, in einem riesigen Innenraum zu stehen, fast wie in einem Bahnhof oder einer Kathedrale, und er vernimmt Geigenklänge, um ihn herum sind Menschen, dann ein unverständlicher Laut ...”
Zu Edwins Vorfahren zählt Wilhelm der Eroberer, von Mondkolonien kann er noch nicht mal träumen, aber von den realen Kolonien seiner Zeit hält er gar nichts und kritisiert öffentlich den britischen Imperialismus - in seinen Kreisen ein überaus ungebührliches Verhalten. Weshalb er „exiliert" wird, nach Kanada, um England dauerhaft fern zu bleiben.
Wuuusch
Geigenklänge auch im Jahr 2020, dazu eine „verwaschene Kakofonie, wie aus dem Innern einer Metrostation”, ein merkwürdig klingendes "Wuuusch", das an hydraulischen Druck erinnerte. Ein kurzes, eindrückliches Spektakel, festgehalten von Vincent, die mit einer Kamera unter einem Ahornbaum steht. Ihr Bruder, ein Komponist, verarbeitet den Videoclip in einer seiner Kompositionen.
Vier Jahrhunderte, viele Protagonisten und ein rätselhaftes Ereignis, eine sogenannte Anomalie - Emily St. John Mandel fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit, was bei ihrem überaus spannend erzählten Roman nicht schwerfällt. Und doch verliert man immer wieder mal den vermeintlich roten Faden in der Geschichte, der - mehrfach verschoben und gedreht - immer wieder auftaucht, wenn auch in einem anderen Jahrzehnt oder Jahrhundert. Und während Olive noch Fragen zu ihrem Roman beantwortet, jeden zweiten Tag in einem anderen Hotel übernachtet und sich nach Mann und Tochter sehnt, landet Gaspary gleichsam in Jahrhundertschleifen schließlich an der Universität bei seiner Schwester Zoey, die - in einem Zeitinstitut arbeitet.
Realität oder Simulation
Sie forscht über diese Anomalie, bei der sich Zeitebenen verknüpfen, wir also in einer Simulation leben.
„Wir können heute ziemlich überzeugende Simulationen der Wirklichkeit erschaffen, und jetzt stell dir vor, wie diese Simulationen in ein, zwei Jahrhunderten aussehen könnten. Die Simulationshypothese geht daher von der Möglichkeit aus, dass die gesamte Realität eine Simulation ist.”
Und um das herauszufinden, wird Gaspery-Jacques Roberts auf eine Zeitreise gehen – bei der er sich weder als früherer Erdenbürger zu erkennen geben, noch bereits Geschehenes verändern darf - zum Beispiel den Tod eines Menschen rückgängig machen, der während der Pandemie gestorben ist, deren Anfänge Olive noch miterlebt hat ...
Was Emily St. John Mandel aus diesen Szenarien macht, großartig erzählt und spannend bis zum Schluß, manchmal so verwirrend, dass man lieber nochmal zurückblättert, das ist schon ziemlich genial – weil sie große philosophische Fragen der Menschheit mit Science Ficton und technischem Fortschritt verknüpft, die gute alte Erde sich weiter drehen läßt, aber den Mond und andere Planeten zügig bevölkert. Man kann ja nie wissen, was die Zukunft bringt.
(Christiane Schwalbe)
Emily St. John Mandel, *1979 in Comox, British Columbia, englischsprachige kanadische Autorin von bisher sechs erfolgreichen Romanen, lebt in New York City .
Emily St. John Mandel "Das Meer der endlosen Ruhe"
aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Roman, Ullstein Berlin 2023, 262 Seiten, 22,99 Euro