Maarten Asscher
Das Haus meiner Kindheit
„Ich sollte aufhören, meine Schlaflosigkeit mit Mittelchen, Pülverchen oder anderen Kniffen oder Tricks zu bekämpfen, und lieber während der schlaflosen Stunden versuchen, meine vergessenen Erinnerungen an Kew an die Oberfläche zu holen, sie auf die Innenseite meiner Lider zu projizieren.“
Nächtliche Entdeckungen
Um seiner Schlaflosigkeit zu entkommen, einem ebenso „hilf- wie hoffnungslosen Zustand“, imaginiert der Autor seine glücklichsten Kindheitserinnerungen, als er in den sechziger Jahren bei seinen Großeltern in Kew bei London den Sommer verbringen durfte. Er weiß, wie sehr sich die utopische Qualität der Literatur aus träumen, hoffen und sehnen speist, und so beschwört er das stattliche Haus herauf, verwandelt sich in einen neugierig schauenden und lauschenden Jungen und lenkt unseren Blick auf den herrlichen Garten, die bilderreichen Räume und die Persönlichkeiten seiner sehr geliebten Großeltern. Auch Dinge, die er längst vergessen glaubte oder die ihm früher nicht aufgefallen waren, spürt er in seinen Nachtstunden auf, zoomt sich dicht an die prächtigen Bilder und Zeichnungen heran, erkundet akribisch jeden einzelnen Raum und beobachtet die geliebten Großeltern.
Unerzählte Geschichten
Der Großvater, den er Oa nennt, war ein „Meister der schönen Dinge“ mit dem für das Kind erstaunlichen „größten Bücherschrank der Welt“, vom kleinen Feriengast zutiefst bewundert. Aus seinem Zorn auf die Deutschen machte er keinen Hehl, sprach aber nie von der Vergangenheit. Großmutter Roosje hatte ihr holländisches Leben als Radiojournalistin, Kolumnistin und Dichterin mit der Emigration nach England verloren. Verbittert war sie dennoch nicht, sondern ein engagierter, herzlicher Mensch, und in Vorträgen erinnerte sie manchmal an die Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht. Was beide verloren hatten, dringt ganz allmählich in die Erinnerungen an das schöne Haus in der 34, Pensford Avenue ein und untermalt die leuchtenden Farben mit dunklerem Ton. Die unerzählten Geschichten tauchen auf wie in bösen Träumen, finden Platz zwischen den wunderbar sinnlichen Erinnerungsbildern an das Haus, den Garten, die vom Krieg verschont gebliebene Umgebung mit den Royal Botanic Gardens.
„Oa selbst hatte die demütigendsten Winkelzüge machen müssen, um sein nacktes Leben und das seiner Familie zu retten. Dafür musste er sogar seinen eigenen Vater verleugnen. All das war nunmehr Vergangenheit, und die Jahre 40 – 45 wurden aus dem aktiven Gedächtnis gelöscht.“
Frühe Erinnerungen
Auch in den jüdischen Familien wurde damals über die Katastrophe, die sie getroffen hatte, geschwiegen, das Schreckliche gelöscht, um die Kinder zu schützen. Doch das schlaflose ältere Ich beschwört nicht nur das fraglose Glück des Kindes, sondern weiß um die Geschichte der Großeltern: Nur knapp entgingen sie der Ermordung der niederländischen Juden, weil sie 1943 aus dem KZ Westerbork entkommen konnten und nach dem Krieg nach England zogen. Welchen Preis sie dennoch zahlten, rekonstruiert Maarten Asscher aus Dokumenten, Briefen, Tagebüchern. Zugleich problematisiert Asscher die Kraft des Gedächtnisses, das frühere Erinnerungen überschreiben oder löschen kann.
„Offenbar habe ich mich so sehr mit der 34 Pensford Avenue identifiziert, dass ich die ganze Welt dieses Hauses und dieses Gartens als etwas strikt Persönliches zu sehen begann, als ein Paradies, das ganz allein mir gehört und das – am allerwichtigsten – niemals hätte verloren gehen dürfen.“
Tröstliches Traumbild
Zwar ist die mentale Rückkehr ins verlorene Paradies in Kew der Schlüssel, den unbeschwerten Schlaf der Kindheit wiederzugewinnen, doch ist sich der Autor in jedem Augenblick seiner melancholischen Reise bewusst, dass die Vergangenheit ein fernes Land und Kew ein tröstliches Traumbild ist. Verletzungen und Verluste sind längst vernarbt, und mit schriftstellerischem Feingefühl und großem stilistischen Geschick macht sich Asscher in seinem Roman seine und die Geschichte seiner Familie wieder zu eigen, sucht nach Antworten auf unbeantwortete und manchmal nicht einmal gestellte Fragen, nach den Spuren des Krieges, dem Gift in den verschwiegenen Familiengeheimnissen.
„Was habe ich zu Unrecht nicht gesehen? Oder unbesehen hingenommen? Wo hätte ich mehr nachfragen müssen? Und noch schmerzlicher: Welche Verpflichtungen bringen diese unbeschwerten Erlebnisse mit sich? Oder steht es mir gar nicht zu, den Preis zu bestimmen, den ich für meine glücklichen Kindheitserinnerungen zu zahlen habe?“
Reiche Sprache
Die Freiheiten, die ihm das Genre des Romans bietet, betont Asscher, der in den Niederlanden ein bekannter Verleger, Kulturmanager und vieles mehr war und Übersetzer und Autor blieb, halfen ihm, die Leerstellen der Familiengeschichte in eine lebendige Beziehung zu den glanzvollen Erinnerungen seines jüngeren Selbst zu bringen und eine vergangene Zeit in zärtlichen Rückblicken zu retten. Das gelingt ihm, weil er seine Eindrücke, Erinnerungsbilder und Traumata in eine klarsichtige, reiche Sprache verwandelt, die den Raum des Kindes in einzigartiger Weise weitet und mit den beschädigten Räumen einer ganzen Nachkriegsgeneration verbindet.
„Vielleicht ist Schlaf nicht viel mehr als ein Sack voller Erinnerungen, Pläne und Gedanken, den ich mir nachts über die Schulter werfe, um mich auf den Weg nach Kew, Richmond upon Thames, London, England, zu machen. Ich kenne keinen besseren, keinen vertrauteren Ort, an dem alles, was ich war und wer ich geworden bin, so sehr in seinem Ursprung zusammenkommt und sich zu einem Ganzen fügt.“
(Lore Kleinert)
Maarten Asscher, *1957 in Alkmaar/Niederlande, Schriftsteller und Verleger, Autor von Essays, Erzählungen, Gedichten und Romanen
Maarten Asscher „Das Haus meiner Kindheit“
aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas,
Roman, Luchterhand Literaturverlag 2023, 254 Seiten, 24 Euro
eBook 21,99 Euro