Erik Fosnes Hansen
Ein Hummerleben
Sedd ist dreizehn und lebt mit seinen Großeltern in ihrem Grandhotel in den norwegischen Bergen, fernab üblicher Touristenpfade. Die Gäste werden weniger, die verlockenden Reiseziele im Süden machen es Direktor Zachariassen schwer, den Betrieb aufrecht zu erhalten.
Gourmets im Grandhotel
Früher war das noble Hotel ein gut besuchtes Ziel von Menschen, die das Gediegene liebten, die Diskretion, den guten Service, das elegante Ambiente - und die frischen Hummer, die weiterhin im großen Becken schwimmen. Es gibt ja kaum noch Gourmets, die das legendäre Meeresfrüchtebuffett von Jim, dem Koch bestellen. Die guten, alten Zeiten sind zwar vorbei, gleichwohl: "Jeder Gast zählt" und "Für die Gäste stets das Beste" bleiben eherne Grundregeln. Das hat der gewissenhafte und altkluge Sedd früh gelernt und hält sich daran, wenn er als Laufbursche, Liftboy oder Küchenjunge aushilft, um den Betrieb von der Pike auf zu lernen – und eines Tages Verantwortung zu übernehmen.
Zwischen Leben und Tod
Sein großer Auftritt kommt, als Bankdirektor Berg beim hochgelobten Guglhupf der Großmutter plötzlich zusammensackt. Der junge Hotelerbe weiß, was zu tun ist, das hat er beim Jugendrotkreuz gelernt, aber alle Wiederbelebungsversuche scheitern. Berg ist tot.
Er war, wie sich bald herausstellen wird, einer der wichtigsten Gäste des stolzen Großvaters, weil zuständig für notwendige Kredite. Der Rückgang der Gästezahlen zwingt in den 1980er Jahren zu neuen Ideen, Hochzeitspakete zum Festpreis werden Haupteinnahmequelle, all inklusive, versteht sich, denn:
"Viele junge Frauen, so Großvater, träumen nämlich derart von ihrer Hochzeit, dass es geradezu krankhaft ist ...schon im zarten Alter von sechs Jahren…" Finanziell willkommen ist auch die Weihnachtsfeier des Berufsverbandes norwegischer Bestattungsunternehmer, die allerdings stets in einem schrecklichen Besäufnis endet - sehr zum Leidwesen der auf Stil und Würde bedachten Großmutter und des Kochs, der lieber Hummer als Graved Lachs serviert.
Am Ende die Katastrophe
Aber es gibt noch andere, wichtigere Geheimnisse für Sedd – seinen Vater, einen indischen Arzt, kennt er genauso wenig wie seine Mutter, die ebenfalls verschwunden ist:
"… ich kann mich unmöglich an sie erinnern. Sie war wohl eine Hexe. Also keine richtige Hexe, aber sie wäre gern eine gewesen. Jim hat das erzählt, denn er hatte sie gekannt … Er meinte, es habe daran gelegen, dass sie diesen einen Song von Donovan zu oft gehört hätte, Season of the Witch, und dann zu viele schräge Bücher über Hexerei las …
Ein weiteres Geheimnis wartet im obersten Stockwerk: Ein verschlossenes Zimmer. Er vermutet darin Aufklärung über das Schicksal seiner Mutter. Als sich schließlich die kleine Tochter des neuen Bankdirektors an Sedds Fersen heftet, verändert sich alles – langsam und schleichend, bis die Geschichte in ebenso tragischen wie unerwarteten Katastrophen endet.
Schöner Schein
Fosnes Hansen, der Ende 1990 mit "Choral am Ende der Reise", die Geschichte der Bordkapelle, die auf der untergehenden Titanic bis zum Schluss ausharrt, einen Bestseller schrieb, erzählt aus dem noch unverstellten Blickwinkel des 13jährigen - gemächlich und wortreich, immer ein bisschen melancholisch, oft humorvoll, allerdings über lange Strecken allzu verliebt ins Detail. Mit den Abgründen, die sich einer nach dem anderen auftun, ändert sich auch das Erzähltempo, wird spannender und atmosphärisch dichter. Mit feinem Gespür und klarem Blick für all' die Menschen, die Einsamkeit und Verzweiflung hinter großen Gesten und perfekten Lügengebäuden verbergen, läßt der Autor die mondänen Fassaden allesamt bröckeln und mit ihnen den schönen Schein einer vergangenen Zeit.
(Christiane Schwalbe)
Erik Fosnes Hansen, *1965 in New York, aufgewachsen in Oslo, mehrfach ausgezeichneter norwegischer Autor, lebt in Oslo
Erik Fosnes Hansen "Ein Hummerleben"
aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2019, 384 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro