Elena Ferrante
Tage des Verlassenwerdens
Seit fünfzehn Jahren verheiratet, gut situiert, zwei Kinder: Olga ist nicht berufstätig, wollte sich mal ganz dem Schreiben widmen, aber Haushalt und Familie hinderten sie daran, Schriftstellerin zu werden. Mario verdient das Geld – eine klassische Rollenverteilung.
Und dann der Schock
"An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle … Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er weder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte … Dann übernahm er die volle Verantwortung für alles, zog behutsam die Wohnungstür hinter sich zu und ließ mich versteinert neben der Spüle zurück."
Erste Reaktion: Die Schuld bei sich selbst suchen, grübeln – was hat sie falsch gemacht, dann Verzweiflung, dann Trauer, dann Wut. Olga fällt in ein tiefes Loch, irgendwann versinkt sie in Selbstmitleid, später wird es Hass, schließlich Selbsthass – das schlimmste von allem, weil er jeden Lebensmut raubt, jede Disziplin, jede Fürsorge. Olga driftet nahezu orientierungslos durch ihre kleine Welt, in der es bislang so geordnet zuging. Bis ihr eine fünf Jahre zurückliegende Episode einfällt: Die Tochter einer Freundin, damals erst 15 Jahre alt, erprobte an ihrem Mann die Wirkung ihrer beginnenden Weiblichkeit. Und richtig: Wegen dieser deutlich jüngeren Frau, "Marios kleiner Hure", verläßt er jetzt seine Familie – auch dies ein Klassiker zu Ende gehender Beziehungen.
Ein Höllenritt
Olga beginnt mit quälender Selbstanalyse:
"Und jetzt, mit achtunddreißig, war nichts mehr von mir übrig und ich nicht einmal mehr fähig, so zu handeln, wie ich es für richtig hielt. Ohne Arbeit, ohne Mann, verkrampft und abgestumpft."
Zunächst stürzt sie sich in wilden Aktionismus, horcht Freunde aus, hört auf, sich zu schminken und hübsch zu kleiden, beginnt zu fluchen und gewöhnt sich einen vulgären, obszönen Sprachduktus an, den sie aus ihrer Kindheit in Neapel kennt - ein Höllenritt, eine Achterbahn der Emotionen, selbstzerstörerisch bis hin zu Selbstmordplänen. Schließlich kommt die tiefe Depression, sie verdrängt alles um sich herum, bleibt im Bett, lässt den Kindern allenfalls die nötigste Fürsorge zuteil werden, vernachlässigt den Hund, Haushalt, Wohnung, sich selbst, verliert jegliche Kontrolle über ihr Leben.:
"Nicht aufgeben, spornte ich mich an, du musst kämpfen … du lebst nicht wie die Frauen vor dreißig Jahren … lass dich nicht zerschlagen wie eine Nippesfigur, du bist kein Spielzeug, keine Frau ist ein Spielzeug ..."
Als sie sich auf eine sexuelle Begegnung mit ihrem Nachbarn einlässt, einem sensiblen, schüchternen Cellospieler, wird daraus ein Akt weiblicher Selbstbestätigung und zugleich der Rache, stellvertretend für ihren tiefen Hass auf den untreuen Ehemann und auf sich selbst, der jede Würde verloren gegangen ist.
Grenzüberschreitung
Elena Ferrante beschreibt weibliche Grenzerfahrungen, exzessiv, verstörend, erschütternd. Das Grauen auf die Spitze treibt sie in der Schilderung eines einzigen Tages, in dem Olga nahezu den Verstand verliert, wie im Wahn und bis zur totalen Erschöpfung gegen sich selbst und ihre Umgebung wütet. Das ist ein dicht und kraftvoll geschriebener Text, erbarmungslos eindeutig, manchmal fast unerträglich, aber nicht gnadenlos, denn irgendwann endet der Alptraum und Olga kehrt in die Realität zurück:
"Es war tatsächlich so, nichts an ihm konnte mich noch interessieren. Er war nicht einmal ein Stück Vergangenheit, nur ein Fleck, der Abdruck, den eine Hand vor Jahren auf einer Wand hinterlassen hatte."
Wer Ferrantes neapolitanische Saga "Meine geniale Freundin" kennt, wird auch hier viele Elemente entdecken, die die Autorin in diesem frühen Roman (2002) bereits angelegt hat – im Mittelpunkt stets die Rolle der Frau, ihre Herkunft, ihre Abhängigkeit von männlicher Macht und ihre aktive Veränderung.
(Christiane Schwalbe)
Elena Ferrante ist das Pseudonym einer anonymen Bestsellerautorin, die 1943 in Neapel geboren ist und als wichtige Vertreterin zeitgenössischer italienischer Literatur gilt.
Elena Ferrante "Tage des Verlassenwerdens"
aus dem Italienischen übersetzt von Anja Nattefort
Roman, Suhrkamp 2019, 254 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 14,95 Euro
Weitere Buchtipps zu Elena Ferrante, alle bei Suhrkamp:
"Zufällige Begegnungen"
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
"Frantumaglia" - Mein geschriebenes Leben
"Frau im Dunkeln"
"Lästige Liebe"
"Die Geschichte des verlorenen Kindes" Band 4 - der Neapolitanischen Saga
"Die Geschichte der getrennten Wege" Band 3 - Erwachsenenjahre
"Die Geschichte eines neuen Namens" Band 2 - Jugendzeit
"Meine geniale Freundin" Band 1 - Kindheit und frühe Jugend