Miljenko Jergović
Ruth Tannenbaum
Über Ruth Tannenbaum, den für kurze Zeit gefeierten Kinderstar, die Shirley Temple des kroatischen Theaters, erfahren wir gleich zu Beginn, dass sie 1943 auf dem Weg nach Auschwitz ermordet wird.
Am Rande des Abgrunds
Im Roman entwickelt sich das verwöhnte Kind zum selbstgefälligen Zentrum einer absurden Begeisterung, in einer Zeit, als in Zagreb längst die Mordlust aufflackert und die kroatischen Nationalisten an die Seite Hitlerdeutschlands treten. Miljenko Jergović komponiert seine vielfältigen Schilderungen der Zagreber Gesellschaft am Rande eines Abgrunds von chauvinistischer Gewalt und bösartiger Zerstörung jeden menschlichen Anstands zwischen den Kriegen um eine Leerstelle herum: Um das Kind und später das junge Mädchen Ruth, das nichts davon ahnt, was auf sie zukommt. Ihr Vater Salomon: Ein jüdischer Ignorant, der auf Anpassung und Selbstverleugnung setzt und von dem es wieder und wieder heißt:
"Moni, der arme Moni, Schandname Salomons, dem Gott so viel Verstand in die Birne gab wie dem Bettler Safran in den Brei, freute sich mit, mit der unterwürfigen Freude des Ausgeschlossenen, der die Meute davon überzeugen will, er gehöre dazu."
Zynische Belehrungen
Sein Schwiegervater Abraham, eine der wenigen anrührenden Figuren in diesem Roman, versucht, mit dem Verkauf seines Geschäfts der Familie die Flucht zu ermöglichen. Doch alle, auch die schwache und unsichere Mutter Ivka, fühlen sich zu sicher in diesem Zagreb mit seinen schönen, kakanischen Bauten und dem Vielvölkergemisch, dessen gewalttätige Auswüchse man allzu gern verdrängt. Als die Ustascha, die kroatische Faschistenmiliz, Lager einrichtet und Menschen auf offener Straße erschlägt, ist es für viele zu spät, und Maksim, einer ihrer Anführer belehrt seine Kumpane zynisch:
"Deswegen muss man die Kroaten immer wieder mal abschlachten und ausdünnen, genaugenommen muss man das Brudervolk der Serben von Zeit zu Zeit auf sie loslassen, damit sie die jungen Triebe trimmen und die Omas und Opas wegschneiden … Ohne die serbischen Säbel und Messer keine Ustascha, und ohne Ustascha, merk dir das, keine Kroaten, ohne Ustascha sterben sie in den nächsten hundertfünfzig Jahren aus."
Bizarrer Reigen
Passagen wie diese werfen ein Licht auf eine viel spätere Zeit, als Jugoslawien ein weiteres Mal in blutigen Kriegen auseinanderfiel. Wenig glaubwürdig allerdings wirkt die ausufernde Schilderung jüdischer Selbsttäuschungen und Irrtümer. Jergović will mit seinem Roman der jüdisch-kroatischen Schauspielerin Lea Deutsch, über deren Biografie er wenig in Erfahrung bringen konnte, ein literarisches Denkmal setzen, denn sie wurde, wie seine Titelgeberin Ruth, im Alter von sechzehn Jahren ermordet. In beständig überanstrengter Lustigkeit der anonymen Erzählerstimme versinkt jedoch jedes leisere und zartere Gefühl, und die Personen, Vater, Mutter und auch alle anderen Bewunderer des Kinderstars werden in einen bizarren Reigen gezogen, sprachlich üppig zwar und virtuos geschildert, aber ohne Tiefenschärfe und Differenzierung - ein zwiespältiges Leseerlebnis!
Verrat an den Figuren
Lediglich die Beschwörungen der immer wieder aufflackernden Gewalt, die den Roman grundieren, treiben die Handlung voran und auf ein absehbares, da bekanntes Ende zu. Ruth Tannenbaum, einem eitlen und egozentrischen Mädchen gesteht der Autor nur die Schönheit ihrer Augen zu - bis sie auf dem blanken Beton ihres Hofs Kniefälle vor dem Führer übt, völlig allein, und von zwei Bewaffneten abgeholt wird. Kein Denkmal also, sondern ein Roman, der seine jüdischen Hauptfiguren verrät, um eine andere Geschichte, aufgesplittert in zahllose Anekdoten, zu erzählen, die Jergović offenbar mehr am Herzen liegt: Die der Stadt Zagreb in düsteren Zeiten.
(Lore Kleinert)
Miljenko Jergović, *1966 in Sarajevo, politischer Kolumnist und vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, lebt in Zagreb
Miljenko Jergović "Ruth Tannenbaum"
aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Roman, Schöffling & Co 2019, 448 Seiten, 26 Euro
eBook 20,99 Euro