Sasha Filipenko
Rote Kreuze
Rote Kreuze malt die über neunzigjährige Tatjana Alexejewna an die Türen ihrer Nachbarn in Minsk, um nach Haus zu finden, denn ihr Erinnerungsvermögen wird durch Alzheimer nach und nach zerstört. "Obwohl, wie’s aussieht, werde ich bald nicht mehr wissen, was sie bedeuten."
Nicht antworten
Doch noch kann sie erzählen, ihrem neuen Nachbarn Alexander, der nach dem frühen Tod seiner Frau in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Begeistert ist er zunächst nicht, doch die alte Frau versteht es, ihn in die russische Geschichte des 20. Jahrhundert hineinzuziehen, die sie seit ihrer Kindheit miterlebte. Sasha Filipenko, 1984 in Weißrussland geboren und in St. Petersburg lebend, ist einer der jungen russischsprachigen Autoren, für die diese Geschichte nicht vergangen ist:
"Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, in Wirklichkeit nur von schrecklichen Geheimnissen zusammengehalten. Das Grauen des Ungesagten, eine Gedenkkultur des Schweigens."
Filipenko kreist in seinem ersten in Deutschland erschienenen Roman um das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen des zweiten Weltkriegs. Tatjana Alexejewnas Mann war einer von ihnen, und sie erzählt, wie sie in einer der Listen des Roten Kreuzes aus der Schweiz seinen Namen entdeckt – und löscht, weil sie wusste, dass ihn das in der Sowjetunion in Gefahr bringt. In zahllosen Briefen an die russische Regierung bot das Rote Kreuz an, Gefangene auszutauschen und für menschenwürdige Bedingungen zu sorgen - Alexejewna erlebt in der Behörde, in der sie als Übersetzerin arbeitet, dass sie allesamt mit dem Vermerk ‚Nicht antworten‘ versehen werden.
Im Stich gelassen
In der Tradition von Solschenizyn und Schalamow beschreibt der Autor, wie die Sowjetunion viel zu lange die Gefahr, die von Hitlerdeutschland ausging, leugnete, und im Krieg schließlich die eigenen Soldaten opferte. Und im Stich ließ, wenn sie in Gefangenschaft gerieten.
"Außerdem, hat man uns erklärt, kann ein tapferer Soldat gar nicht in Kriegsgefangenheit geraten. Wenn sich ein Krieger ergibt, dann ist er ein Feigling. Ironischerweise habe ich das am häufigsten aus dem Mund von Männern gehört, die zu Hause in Moskau geblieben waren. Der sowjetische Soldat muss kämpfen bis zum letzten Tropfen Blut. Punkt. Und Absatz."
Während Alexejewnas Krankheit voranschreitet, nutzt Alexander jede Gelegenheit, mehr über ihr Schicksal zu erfahren, ihre Lagerhaft als Frau eines Kriegsgefangenen, den Verlust von Mann und Tochter.
"Wir sehen uns jeden Tag, und jedes unserer Gespräche fördert neue Leerstellen zutage. Wegradierte Erinnerung, zerschnittenes Schicksal."
Lebendige Erinnerungen
Auch die Ignoranz und Unwilligkeit vieler Russen, sich mit ihrer Geschichte zu konfrontieren, bringt Filipenko zur Sprache, und er reichert seine Erzählung mit Zeitdokumenten und Gedichten an. Seine Hauptfigur verhindert mit ihren lebendigen Erinnerungen, dass das Buch allzu holzschnittartig gerät. Die 'wegradierte Erinnerung' an einen bisher noch kaum erforschten Ausschnitt der stalinistischen Mordmaschinerie entreißt dieser engagierte Roman auf eindrückliche Weise dem endgültigen Vergessen.
(Lore Kleinert)
Sasha Filipenko, *1984 in Minsk, Weißrussland, Journalist, Drehbuch-Autor und Gag-Schreiber für eine Satire-Show, er hat drei eigene Fernsehshows beim unabhängigen russischen Sender Rain TV moderiert und ist der Autor von vier preisgekrönten Romanen, lebt in St. Petersburg
Sasha Filipenko "Rote Kreuze"
aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Roman, Diogenes Verlag 2020, 288 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro, AudioCD 20 Euro