Michelle Winters
Ich bin ein Laster
Vier Wurstsandwiches, ein Dutzend Dattelplätzchen und eine Thermoskanne Kaffee gab Agathe ihrem riesenhaften Mann, dem Lastwagenfahrer Réjean mit auf seine Angeltour, obwohl sie vermutete, dass er gar nicht zum Angeln fährt.
Verzeihliche Lügen
Aber nach zwanzig Jahren guter Ehe sind kleine Lügen verzeihlich, wenn die Liebe groß ist. Doch als der Truck, sein geliebter Silverado, leer am Straßenrand gefunden wird und Réjean verschwunden bleibt, platzt Agathes Seifenblase vom zufriedenen Leben von Zweien, die sich selbst genug sind. Während sie noch ihren Erinnerungen nachhängt, schiebt sich eine neue Realität davor.
Michelle Winters erzählt die Geschichte von Agathe und Réjean im Wechsel von Davor und Jetzt, und das Geheimnis des Verschwindens wird langsam umkreist, ohne jedoch zum beherrschenden Motiv zu werden. Agathe muss ihr Leben in die Hand nehmen, arbeiten, findet dort im Laden für gebrauchte Elektrogeräte sogar eine Freundin, Debbie, mit der sie die Rockmusik entdeckt. So sehr Agathe ihren handfesten Mann bewunderte, so wenig konnte sie mit seiner Musik anfangen, frankokanadischem Folk aus dem Teil Kanadas, dem beide angehörten.
Zeit für etwas Neues
"Le Rockandroll" war keine akzeptierte Form der Unterhaltung, und die englische Sprache wurde auch in den Achtziger Jahren, in denen der Roman angesiedelt ist, noch gemieden. Die Rockmusiker, Frauen und Männer, scheinen direkt zu Debbie zu sprechen, die 'Pretenders', Marc Bolan, Bruce Springsteen, und ihre Botschaften werden zu Glücksreserven für Agathe, die schließlich sogar lernt, den verlassenen Silverado zu fahren.
"Bruce spricht einfach klar aus, was wir alle denken. Er weiß, dass wir manchmal was ganz Neues brauchen. Die Welt ist so riesig, und wir kriegen nur den geringsten Bruchteil davon mit. Ist doch richtig, mehr zu wollen."
Der "Rockandroll" zieht sich durch den Roman wie ein Soundtrack eines möglichen anderen Lebens, doch noch wartet Agathe:
"Wer weiß, vielleicht kommt er heute Abend nach Hause?...in ihrem tiefsten Innern war ihr klar, dass sie mit dem Ort, mit der Gegend hier noch nicht fertig war und dass nur sie wissen würde, wann es Zeit für etwas Neues war."
Überraschende Wendungen
Jede einzelne Szene reichert Michelle Winters in ihrem ersten Roman mit liebevoll gezeichneten, mitunter absurden Details an, die die Atmosphäre im kleinen kanadischen Ort lebendig werden lassen, und zugleich treibt sie die Geschichte mit schnellen, überraschenden Wendungen voran. Während die Welt Agathes größer und sie selbst bei aller Trauer selbstsicherer wird, erfahren wir fast beiläufig, was mit Réjean geschah. 'Ab jetzt' ist dieser letzte Abschnitt überschrieben, in dem die Fäden wieder verknüpft werden. Die Autorin erschafft ein neues Muster, das Sehnsucht, Schmerz und Verlust in sich aufhebt und von großer, einzigartiger Energie gespeist ist, in ganz eigener poetischer und kraftvoller Sprache.
"So qualvoll es war, sah sie dennoch genau hin, duckte sich nicht unter dem Trommelfeuer, zwang sich zu dem Eingeständnis, dass dieses Bild nur noch Vergangenheit war. Dass es jetzt anders weitergehen würde; es war höchste Zeit."
(Lore Kleinert)
Michelle Winters, geboren in New Brunswick, Kanada, Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin, lebt in Toronto
Michelle Winters "Ich bin ein Laster"
aus dem kanadischen Englisch von Barbara Schaden
Roman, Wagenbach Verlag Berlin 2020, 144 Seiten, 18 Euro