Elena Ferrante
Die Geschichte eines neuen Namens
Schon der erste Band, "Meine geniale Freundin" wurde ein Weltbestseller. "Die Geschichte eines neuen Namens", der zweite Band, ist nicht minder erfolgreich. Elena Ferrante ist eine große Erzählerin, die mit ungekünstelter und anschaulicher Sprache ihre LeserInnen in den Bann zu ziehen versteht.
Männerherrschaft
Wieder ist es ein Buch, das man einfach nicht weglegen kann, das fesselnd und realitätsnah geschrieben ist und mit der Geschichte zweier ungleicher Freundinnen das Leben einer ganzen Frauengeneration beleuchtet. Die Autorin illustriert den wachsenden Reichtum des Lebensmittelhändlers Stefano im düsteren Viertel Rione in Neapel, entlarvt die alles beherrschenden Strukturen der Camorra, der sich zu widersetzen todesmutig wäre, und beschreibt schonungslos die Brutalität der Männer, die ihre Frauen grün und blau prügeln, wenn sie sich nicht fügen:
"Wir waren mit der Vorstellung aufgewachsen, dass ein Fremder uns keinesfalls anrühren durfte, dass aber unser Vater, unser Verlobter, unser Ehemann uns ohrfeigen durfte, wann immer er wollte, aus Liebe, um uns zu erziehen und uns zu bessern."
Hoher Preis
Mit 16 ist Lila fast noch ein Kind, als sie Stefano heiratet. Zu spät erkennt sie, welchen Preis sie für Aufstieg, Wohlstand und den Luxus einer eleganten Wohnung zahlen muss, wie tief ihr Mann bereits ins mafiöse System verstrickt ist. Zutiefst enttäuscht und erniedrigt verweigert sie sich ihrem Mann nicht nur im Bett, sondern zunächst auch bei all' seinen beruflichen Plänen. Aber auf Dauer kann sie dem Druck nichts entgegensetzen und fügt sich. Lenú, die intellektuelle Freundin, geht derweil aufs Gymnasium, muss sich schwer anstrengen, um den Anforderungen zu genügen, und bekommt von den Eltern kaum Unterstützung. Mit wachsender Deutlichkeit sieht sie, was sie auf dem Weg in eine andere soziale Klasse zurücklässt, und was auch ihr Schicksal geworden wäre:
"Nun aber sah ich auch die Familienmütter des alten Rione in aller Deutlichkeit. Sie waren gereizt, waren fügsam. Sie schwiegen mit zusammengekniffenen Lippen und eingezogenem Kopf oder schrien ihre Kinder, die ihnen auf die Nerven gingen, mit fürchterlichen Schimpfwörtern an. Abgezehrt, mit tiefliegenden Augen und eingefallenen Wangen… Und du lieber Himmel, sie waren zehn oder höchstens zwanzig Jahre älter als ich."
Ewige Konkurrenz
Um aus der Armseligkeit ihres Viertels herauszukommen, zahlt auch Lenù einen hohen Preis: Sie pendelt zwischen zwei Welten – zur einen gehört sie nicht mehr, zur anderen noch nicht. Der intellektuelle junge Mann, für den sie schwärmt, ignoriert sie. Er wird unerreichbar bleiben und später der Liebhaber ihrer Freundin werden. Und da ist sie wieder, die ewige Konkurrenz zwischen den beiden Freundinnen, die sich zeitweise komplett auseinanderleben, um dann doch wieder zusammenzufinden: "Wir zwei zusammen, Schulter an Schulter, im Kampf gegen den Rest der Welt." Zumindest Lenú hasst und liebt ihre ungleiche Freundin gleichermaßen, schwankt zwischen Eifersucht und Mitleid, Stolz auf die eigene, schwer erkämpfte Bildung – sie bekommt ein Stipendium in Pisa – und Neid auf die offensichtliche Leichtigkeit, mit der Lila immer wieder auch geistige Herausforderungen bewältigt.
Kampf um Freiheit
Es geht um unterschiedliche Formen der Liebe in diesem Roman – zum einen um die erzwungene, angebliche Liebe, die unter dem Deckmantel der Ehe in Unterdrückung und Hass mündet, und um Leidenschaft, mit der Lila schließlich ausbricht aus ihrem Gefängnis. Aber auch die Leidenschaft erweist sich als trügerisch. Die mutige junge Frau, der nichts wichtiger ist als Freiheit und Selbstbestimmung, fällt tief, als sie sich den sozialen Regeln nicht mehr unterordnen und den Wünschen und Vorstellungen ihres Mannes nicht mehr beugen will, dessen dunkle Geschäfte mit der Camorra sie zunehmend durchschaut.
Kostbares Privileg
Elena Ferrante hat eine Geschichte der weiblichen Emanzipation geschrieben, die in den 1960er Jahren nicht nur in Neapel ein schwerer Kampf war; wie das kostbare Privileg der Bildung, das sich Lenù hart erarbeiten muss – um den Preis von Entfremdung, Einsamkeit und das Gefühl der Minderwertigkeit:
"Hatte ich es geschafft? Fast. Hatte ich mich aus Neapel, aus dem Rione herausgearbeitet? Fast. Hatte ich neue Freundinnen und Freunde, die aus gebildeten Kreisen stammten …? Fast. War ich mit jedem weiteren Examen zu einer Studentin geworden, die von den mich prüfenden, nachdenklichen Professsoren gern gesehen war? Fast. Ich hatte Angst … Ich fürchtete mich vor denen, die ohne dieses Fast, mit Unbefangenheit, gebildet sein konnten."
Innere Zerrissenheit
Elena Ferrante gelingt es auch in "Die Geschichte eines neuen Namens" meisterhaft, Gefühle und Stimmungen zu schildern, Milieus und soziale Strukturen zu analysieren, Leid und Enttäuschung von Menschen auszuloten und eine innere Zerrissenheit spürbar zu machen, die sich weder durch Heirat noch durch Bildung oder gar Liebe wirklich aufheben lässt.
(Christiane Schwalbe)
Elena Ferrante ist das Pseudonym einer anonymen italienischen Schriftstellerin, die 1943 in Neapel geboren ist und als wichtige Vertreterin zeitgenössischer Literatur gilt.
Elena Ferrante "Die Geschichte eines neuen Namens"
Jugendzeit - Band 2 der Neapolitanischen Saga
"Storia del nuovo cognome" übersetzt von Karin Krieger
Roman, Suhrkamp 2017, 624 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro, Hörbuch CD 18,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Elena Ferrante, alle bei Suhrkamp:
"Zufällige Begegnungen"
"Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
"Tage des Verlassenwerdens"
"Frantumaglia" Mein geschriebenes Leben
"Frau im Dunkeln"
"Lästige Liebe"
"Die Geschichte des verlorenen Kindes" Band 4 - Reife und Alter
"Die Geschichte der getrennten Wege" Band 3 - Erwachsenenjahre
"Meine geniale Freundin" Band 1 - Kindheit und frühe Jugend