Véronique Olmi
Der Mann in der fünften Reihe
Nelly ist eine erfolgreiche Theaterschauspielerin und Mutter von zwei Söhnen. Abend für Abend steht sie auf der Bühne, gibt fremden Figuren Gesicht und Gestalt, kämpft mit Selbstzweifeln, ist fixiert auf die Vorstellungen, selbst an ihrem freien Tag.
Immerzu Angst
"Meine Woche, oder besser mein Leben, beginnt am Dienstag. Der Montag hängt irgendwie in der Luft. Ich fülle ihn mit möglichst vielen Verpflichtungen und treffe alle möglichen Menschen. ...Ich durchlebe den vorstellungsfreien Tag in der ständigen Angst, dass er mich von der Rolle ablenkt....Wenn ich spiele, habe ich vor allem Angst. Krank zu werden. In der Metro steckenzubleiben. Meinen Text zu vergessen. Keine Stimme mehr zu haben."
Vor dem Drama
Eine Frau, die um sich selbst und das Theater kreist, nahezu zwanghaft auf den Abend starrt, ihren Tagesablauf akribisch genau beschreibt. Wir erleben ihre Mutter, die alles vergisst und verdreht, mit ihr telefoniert sie täglich; wir erfahren von der Kindheit am Mittelmeer, wir lernen Joseph kennen, den Schriftsteller und Liebhaber, und die nervige Freundin, die das aktuelle Theaterstück nicht verstanden hat. Fast nebenbei begegnen wir auch den beiden Söhnen, der eine schon fast erwachsen. Alltägliches wird in diesem kleinen Roman zunehmend mit Bedeutung aufgeladen, es dient dramaturgisch zur Vorbereitung auf ein Desaster, das sich im Theater abspielen wird.
Aus der Bahn geworfen
Als wir Nelly kennenlernen, sitzt sie mitten in der Nacht auf dem Bahnhof:
"Eisige Stille bis ins Mark meiner Knochen. Hinter mir eine riesige, verschlossene Stadt. Vor mir die leeren Züge wie gestrandete Wale. Und Sie. Vielleicht hören Sie mir zu. Es ist eine Welt, die nichts mehr zu sagen hat. In der ich mich verloren habe."
Véronique Olmi lässt ihre Protagonistin zunächst nüchtern, dann zunehmend erregter die verstörenden Ereignisse des Vortages beschreiben, als säße da eine Frau in einer Art Trance auf der Bank, die ihr Leben erzählt, es vor- und zurückspult, wieder und wieder diese eine Szene betrachtet, die sie aus der Bahn geworfen hat: Ihr Blick auf den Mann in der fünften Reihe und der anschließende Zusammenbruch in Erinnerung an eine große, schmerzhafte Leidenschaft, die alles andere im Leben überlagert hat.
Zuende bringen
Man muss sich einlassen auf diesen kompakten, durchaus schwierigen und zugleich intensiven Stil dieses schmalen Romans. Es ist ein emotionaler Monolog, der dramaturgisch auf diesen einen dramatischen Höhepunkt zusteuert, der ihr buchstäblich den Boden unter den Füssen wegreißen wird. Sie erkennt, dass sie die Geschichte einer großen Liebe zuende bringen muss und nicht länger davonlaufen kann.
(Christiane Schwalbe)
Véronique Olmi, *1962 in Nizza, Autorin von Romanen und Theaterstücken, eine der bekanntesten Dramatikerinnen Frankreichs, sie lebt in Paris
Véronique Olmi "Der Mann in der fünften Reihe"
"J'aimais mieux quand c'était toi" aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Roman, Verlag Antje Kunstmann 2017, 112 Seiten, 18 Euro
eBook 14,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Véronique Olmi
"Nacht der Wahrheit"