Elif Shafak
Der Geruch des Paradieses
Elif Shafak trägt viele Kulturen in sich, ist eine Wanderin zwischen den Welten, geboren in Straßburg, aufgewachsen in Madrid, Amman und Ankara. Heute lebt sie in London und Istanbul. Sie nennt sich selbst eine Weltbürgerin, setzt sich mit Glauben, Religionen und ihren Dogmen auseinander.
Studium in Oxford
In "Der Geruch des Paradieses" steht ihre Protagonistin Peri zwischen den Welten, eine junge Frau, die mit ihrer Familie in Istanbul lebt. Auf dem Weg zu einer Dinnerparty der Istanbuler Oberschicht bleibt sie mit ihrer Tochter im Stau stecken. Nicht nur das, ihr wird die Handtasche aus dem Auto geklaut, sie rennt hinterher und bringt sich in Lebensgefahr. Der Überfall ist nur der erzählerische Einstieg in eine ganz andere Geschichte. Ihre Tochter rettet nämlich ein uraltes Foto, das in Oxford entstand, hierher hatte ihr Vater sie zum Studieren geschickt.
Blick in die Vergangenheit
Während sie völlig derangiert, verletzt und mit zerrissenem Kleid im Haus ihrer Gastgeber ankommt, beginnt der Rückblick in eine lange verdrängte Vergangenheit, in die Kindheit in einem Elternhaus der Gegensätze: Ihr Vater verehrt Atatürk, hält nicht viel vom Glauben, dafür umso mehr vom Alkohol und betrinkt sich gern. Die Mutter ist streng gläubig und verachtet ihren Mann, ein Bruder landet wegen kommunistischer Gesinnung im Gefängnis, der andere, nationalistisch und traditionell, wirft seiner Ehefrau in der Hochzeitsnacht fehlende Jungfräulichkeit vor. Mittendrin Peri, die sich nicht entscheiden kann, auf wessen Seite sie stehen will.
Kreis ohne Mittelpunkt
In Oxford befreundet sie sich mit der verrückten Shirin, Britin mit iranischen Wurzeln, die jegliche Tradition von sich weist und das Leben genießt, und mit Mona, einer ägyptisch-amerikanischen Muslimin, die Kopftuch trägt und ihren Glauben ebenso verteidigt wie den Feminismus. Alle drei studieren bei einem charismatischen Professor, der seinen Studenten höchst unkonventionell beizubringen versucht, wer wohl Gott sein könnte. Damit ist ein großes Tableau angelegt, auf dem Shafak ihre Geschichte spielen lässt. Hier treffen sich Orient und Okzident, Religiosität und Atheismus, Liebe und Leidenschaft, tiefe Freundschaft und abgrundtiefe Verachtung. Und immer geht es darum, zu diskutieren, zu verstehen und offen zu bleiben für andere Anschauungen. Peri steht stets zwischen den Welten, muss ihr eigenes Wertesystem erst aus den Angeln heben (lassen), um einen Platz zu finden:
"Gott war ein Labyrinth, für das es keine Karte gab, ein Kreis ohne Mittelpunkt, ein Puzzle, dessen Teile augenscheinlich nie zusammenpassten. Indem sie das Rätsel löste, würde sie Sinn in die Widersinnigkeit, Vernunft in den Aberwitz, Ordnung ins Chaos bringen und vielleicht lernen, glücklich zu sein."
Spiegel der Gesellschaft
Elif Shafak erzählt lebendig und unterhaltsam auf zwei Ebenen, kehrt aus der Vergangenheit immer wieder zurück: Auf der Dinnerparty beobachtet Peri eine mehr oder weniger verlogene Gesellschaft wichtiger und sich wichtig gebärdender Menschen, wohlhabend, arrogant, bürgerlich – ein Spiegel der allgemeinen gesellschaftlichen Situation:
"Istanbul glich weniger einer Metropole als einer Flickenstadt aus voneinander abgeschotteten Communitys. Man war entweder 'streng religiös' oder 'streng säkular'… Das imposante, prunkvolle Ambiente erinnerte Peri an ein Renaissancegemälde. Wäre es ihr Werk gewesen, hätte sie es 'Das letzte Abendmahl des türkischen Großbürgertums' genannt."
Gelenkte Demokratie
Und so beschreibt sie einerseits die persönliche Geschichte einer jungen Frau, die in kein Schema passen will, und andererseits die sich dramatisch verändernde Türkei, die sich ein erfolgreicher Architekt so vorstellt:
"Eine gelenkte Demokratie wäre genau das Richtige.Ein Stab aus Bürokraten und Technokraten unter der Leitung eines klugen, starken Führers. Solange der Mann an der Spitze weiß, was er tut, habe ich kein Problem mit Autorität. Wie sollen wir sonst ausländische Investoren ins Land locken?"
Womit wir mittendrin sind in der aktuellen politischen Situation, die Elif Shafak auch in diesem Buch aufspürt. Mit offenem Ausgang.
(Christiane Schwalbe)
Elif Shafak, *1971 in Straßurg, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei, Autorin von z.Zt. 14 Büchern, schreibt auf Türkisch und Englisch, lebt in London und Istanbul
Elif Shafak "Der Geruch des Paradieses"
übersetzt von Michaela Grabinger
Roman, Kein & Aber 2016, 560 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Elif Shafak
"Unerhörte Stimmen"