Elif Shafak
Unerhörte Stimmen
"Tequila Leila, so hieß sie daheim und bei der Arbeit in dem rosenholzfarbenen Haus in der Kopfsteinpflastergasse unten am Kai zwischen Kirche und Synagoge, zwischen Lampenläden und Kebabbuden – in der Straße mit Istanbuls ältesten amtlich zugelassenen Bordellen."
Leben als Prostituierte
Erinnerungen bestimmen Leilas letzte Gedanken, zehn Minuten und achtunddreißig Sekunden lang, während sie ermordet und in eine Mülltonne gestopft darauf wartet, aufgefunden zu werden – Erinnerungen an die Kindheit im weit entfernten Van, die Flucht nach Istanbul, ihr Leben als Prostituierte, das begann, als sie sechzehn Jahre alt war. Elif Shafak setzt mit ihrem berührenden Roman dieser beherzten Frau ein Denkmal, und sie widmet es zugleich allen Frauen Istanbuls, deren Leben von Willkür, religiöser Anmaßung und Lüge geprägt ist. Leilas sehr junge Mutter musste sie der ersten Frau ihres Mannes als Tochter überlassen, und ihr Onkel missbrauchte das Mädchen schon als Kind. Die lebhafte, neugierige Leila lernte, die Wahrheit früh zu verschweigen, denn niemand wollte sie in diesen fünfziger und frühen sechziger Jahren wissen, obwohl die Türkei damals am Aufbruch in die Moderne teilhatte.
"Sie hatte gelernt, alle zärtlichen Empfindungen zu verbergen, sie höchstens hinter verschlossenen Türen zuzulassen und danach nie wieder darüber zu sprechen. Nur diese Form der Zuneigung hatten ihr die Erwachsenen beigebracht – eine Lektion mit schrecklichen Folgen."
Gemeinsames Leid
Als Leila nach Istanbul flüchtete, wurde sie zur Prostitution gezwungen, doch es gelang ihr, in einem achtbaren Bordell unterzukommen – und Freundinnen zu gewinnen. In die Erinnerungen der Sterbenden flicht die Erzählerin deren Geschichten ein: die der somalischen Prostituierten Jamila, des Transsexuellen Nalan, der Sängerin Humeyra, der Zwergin Zaynab122. Sie alle sind durch gemeinsames Leid, aber auch die Gabe der Lebensfreude miteinander und mit Leila verbunden, und mit der Stadt, deren Härte und verlockender Glanz sie auf unterschiedliche Weise prägte.
"Istanbul war eine Illusion, ein misslungener Zaubertrick, ein Traum, der nur in den Köpfen von Haschischessern existierte. Denn in Wahrheit gab es kein Istanbul, sondern viele Istanbuls, die immer in dem Wissen, dass am Ende nur eines überleben würde, miteinander stritten, konkurrierten und kollidierten."
Elif Shafak würdigt in ihrem Roman auch die Aufstände der Studenten und Gewerkschaften gegen die Diktatur, den Kampf derer, die sich schließlich am 1. Mai 1977 zu einer riesigen Kundgebung auf dem Taksimplatz zusammenfanden und zusammengeschossen wurden. Auch der Mann, der Leila heiratete und sie aus dem Bordell befreite, ein Student und Revolutionär, ist unter den Toten, und Leilas Chance, ein gutes Leben mit ihm zu führen, vorüber.
Am Rand der Gesellschaft
Doch Elif Shafak gelingt es, die Stärke und Klugheit dieser Frau lebendig werden zu lassen; sie eignet sich nicht als Opfer, und selbst nach ihrem Tod ist sie für ihre Freunde eine Inspiration zur Widersetzlichkeit.
"Vorschriften waren Siebe, deren grobe Maschen alles Mögliche passieren ließen, waren Kaugummis, die längst ihren Geschmack verloren hatten, aber nicht ausgespuckt werden konnten. In diesem Land und im gesamten Nahen Osten war Vorschrift alles andere als Vorschrift."
Ihr Schulfreund, den sie 'Sabotage' nannte und später in Istanbul wiedertraf, macht sich mit den vier anderen schließlich daran, Leila die letzte Ehre zu erweisen, nachdem man sie fand und anonym verscharrte. Elif Shakaf würdigt dieses Unterfangen mit so viel Witz und Einfallsreichtum, wie es ihrer Heldin gebührt. Das Leben am Rand der Gesellschaft hat nicht nur lebhafte Farben und Gerüche, sondern seine ganz eigene schwer zu entziffernde Schönheit, und Elif Shafak erzählt davon mit Poesie und besonderem Wohlklang, ohne einen einzigen falschen Ton.
(Lore Kleinert)
Elif Shafak, *1971 in Straßurg, eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei, Autorin zahlreicher Bücher, schreibt auf Türkisch und Englisch, lebt in London und Istanbul
Elif Shafak "Unerhörte Stimmen"
Roman, aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber 2019, 432 Seiten, 24 Euro
Weiterer Buchtipp zu Elif Shafak
"Der Geruch des Paradieses"